Abschied von der Selbstzerstörung

Keimt Leben auf, wird es ständig erstickt. Immer, wenn ein Lebensimpuls ins Bewusstsein steigt, setzt sich sofort der Todesimpuls durch. Das Leben ist eine endlose Folge von Impulsen und Gegenimpulsen. Das Leben erstarrt durch permanente Gegenimpulse.

Kommt die Depression, muss ich wach hineingehen: Ich stelle fest, dass ich jetzt depressiv bin und suche eine aktive Versöhnung mit ihr. Ich suche nach dem Schlüsselwort, nach der stärksten Empfindung in diesem Moment. Ich suche das sprachliche Äquivalent zum emotionalen Zustand. Ich suche nach dem „Zauberwort“, welches das momentane Gefühl ausdrückt.

Ich suche starke Worte – ich suche das emotionale Echo zu Worten. Ich versuche, sprachlose Emotion in einen passenden Ausdruck zu fassen.
 

Spiegelexistenz

Ich nehme mich selbst über die Wahrnehmung anderer wahr. Es ist der dauernde Versuch, den Glanz in den Augen der Mutter bei anderen wiederzufinden. Wenn dieser Spiegel, diese Spiegelung einen Mutterersatz bedeutet, bin ich vom Urteil anderer abhängig. Ich bleibe in Äußerlichkeiten stecken und suchen zu gefallen. Ich definiere mich ausschließlich über den Anderen. Ich verwechsle die Reflexion auf Andere mit meinem handelnden Ich – ich habe meine Autonomie dem Anderen übergeben und weiß es nicht.
 

Spiegel

Eine Spiegelbeziehung, in welcher die Liebe verfehlt wird, ist der Narzissmus, denn narzisstische Menschen verkennen die Umwelt als ein Spiegelbild ihrer selbst. Sie können andere Menschen in ihrer Fremdheit nicht wahrnehmen.

Form I der narzisstischen Spiegelbeziehung: Mein Ich erstarrt.
Durch Verwechslung des Anderen mit meinem eigenen Ich verschließe ich mich immer mehr in Einsamkeit. Ich meide jede tatsächliche Begegnung mit dem Fremden und nutze ihn nur als Resonanzraum für mein Ich. Ich versuchen den Anderen zu blenden, ich will ihn nicht als eigene Person wahrnehmen, suche aber seine Bewunderung.
Ich versuche die ganze Welt mit meinem Ich zu füllen, um mich vor dieser Welt zu schützen.

Form II der narzisstischen Siegelbeziehung: Mein Ich löst sich auf.
In dieser Form sehe ich auch die ganze Welt als mein eigenes Spiegelbild, doch ich schütze mein Ich nicht. Ich verliere Verstand und Willen und lasse mich von anderen Menschen aussaugen und verschlingen. Am Ende habe ich einen totalen Ich-Verlust. Aus Sehnsucht nach meinem nicht findbaren Selbst löse ich mich selbst auf und bin dabei absolut isoliert.

Heilung für Form I und II gibt es nur in zwei Spiegelübertragungen, der Leitbildspiegelung oder in der Begegnung mit dem leeren Spiegel.

Spiegelübertragung heißt, dass ich mit ihr ein entsprechendes frühkindliches Defizit überwinden will. Ich will mit ihr mein Selbstwertgefühl in eine realistische Richtung lenken, ich reklamiere ein wachsendes Selbstwertgefühl, das mich dann vor meinem Ich-Verlust schützt.
 

I Leitbildspiegelung

Der Mensch, den ich liebe, ist mein Projektionsträger. Auf ihn projiziere ich

  • noch nicht verarbeitete frühere Beziehungen zu Eltern und Geschwistern (Vergangenheit)
  • noch nicht realisierte unbewusste Lebensmöglichkeiten (Zukunft)

Es gilt, diese Projektionen zu erkennen und zurückzunehmen, um den Kern der Liebe herauszuschälen, der da heißt: Ich liebe dich, weil deine hervorstechenden Wesenszüge in mir verkümmert sind und ich sie wecken möchte. Deine so tollen Eigenschaften und Fähigkeiten sind auch in mir – hilf mir sie hervorholen zu können.
Wenn sich zwei Menschen lieben, ist diese Leitbildspiegelung gegenseitig und diese zwei Menschen werden sich immer etwas ähnlicher.

Leitbildspiegelung geschieht bewusst, Projektion geschieht unbewusst. Es gilt die Grenze zwischen Leitbildspiegelung und Nachahmung im Auge zu behalten. Leitbildspiegelung verbindet abgrenzende Selbstbehauptung mit aufnehmender Liebe. Leitbildspiegelung bedeutet deshalb nicht unbewusste Verschmelzung, sondern bewusste innere Verbindung.
 

II Der leere Spiegel

Die Begegnung mit dem leeren Spiegel soll heißen: Ich lasse mich ins Du fallen, ohne jede Instrumentalisierung des Du. Es gibt keine Absicht, es gibt keinen Eigennutz. Das Du existiert und ich liebe es.

Es geht nicht mehr um die Spiegelung eines eigenen Persönlichkeitsanteils durch das Du, sondern um Hingabe an das Du. Das Ich ist ganz liebende Aufmerksamkeit für das Du, ohne mit dem Du identisch zu werden. Ich bin im Du aufgehoben. Das Kriterium dabei ist meine eigene Wachheit: Mein Ich verliert sich in das Du, gibt sich aber nicht auf!
 

Verneinungen des gegenwärtigen Geschehens durch negative Codes aus der Vergangenheit

Unrealistische Vorstellungen stammen immer aus bestimmten Vorkommnissen in der Vergangenheit. Deutungen gegenwärtiger Situationen aufgrund irrationaler Vorstellungen haben eine destruktive Dynamik und wirken als selbsterfüllende Deutungen, als selbsterfüllende Prophezeiungen. Es tritt das ein, was ich herbeigedacht, herbeigeredet habe. Ich verhalte mich nicht realitätsgerecht, sondern im Sinne der Deutung. Ich schaffe selbst ein Ergebnis nach der vorauseilenden Deutung, nicht nach der Realität. Nicht die realen Ereignisse, sondern meine festen Vorstellungen über deren Bedeutung lenken mein Denken und Verhalten.

Der negative Code verzerrt die reale Wahrnehmung des auslösenden Bildes. Die im negativen Code gespeicherten Zeichen biegen die Realität zu dem hin, was ich erwarte.
 

Erinnerungen

Fixierte Erinnerungsbilder können mich zerstören. Masochistisch durchgepäppelte schlimme Erinnerungen sind zersetzend und bedeuten Kurs auf die eigene Zerstörung.

Mit der immer wieder neuen Belebung alter Erinnerungen bestimme ich selbst mein Los, verstimme ich mir mein Leben. Im Wühlen alter Wunden erzeuge ich neue Wunden, bis das ganze Dasein wund und ein brennender Schmerz ist. Ich hypnotisiere mich selbst mit der Botschaft: Alles ist, wie es immer war.

Alte Wunden können nur vernarben, wenn ich sie in Ruhe lasse. Dies ist keine Verdrängung, sondern Heilung.
Alte Schmerzen können zu autohypnotischen Abläufen werden. Mir muss der gespeicherte Code bewusst werden. Ich muss mich vom Zwang lösen, zum tausendsten Mal auf die alte Geschichte zurückzukommen.

Nicht-Vergessen-Können ist unglaublich leidbringend. Heilsames Vergessen ist angesagt, auch wenn die Tatsachen nicht aus dem Gedächtnis gestrichen werden. Die Polarisierung der Gegnerschaft in einer Beziehung kann mit dem Aufwärmen uralter Geschichten geschehen – ein Herumstochern in Lieblosigkeit – ein Kippen der Liebe hin zur Feindschaft.

Ein alter Code (meist vom gegengeschlechtlichen Elternteil verursacht) wird neu belebt: Alles was du in deinem Tun und Denken bist, das bist du gegen mich. Eigentlich bist du mein Feind. Und um die alten Wunden herum werden neue hinzugefügt – es entsteht autosuggestiver und selbstmultiplizierter Schmerz. Ich füge mir diese Wunden selbst zu – niemand sonst!

Allein der Affekt ist der Auslöser des Willens.
 

Tödliche Zweiheit

Der rege Austausch, der stattfindet, ist ein Schlagabtausch. Es herrscht das Prinzip der abweisenden Gegenhaltung, das Prinzip des Gegeneinander-Lebens. Beide Partner sind bei intensiver gegenseitiger Anziehung sehr verschieden. Jeder ruft beim anderen die problematischen Erfahrungen mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil wach. Zwei isolierte Systeme beschießen und zerstören sich gegenseitig.

Oft scheint der Organismus des einen Partners das Todesurteil auszuführen, das der andere über ihn gefällt hat.

Wirkende Kräfte:
Schlimm: Übermäßige Anpassung in der Kindheit.
Schlimmer: Das Schicksal des isolierten Einzelkindes.
Am Schlimmsten: Die leeren Augen der Mutter in der Frühkindheit.

Der Zerstörungsprozess beinhaltet als dynamischer Wirkungsmechanismus die aktive Einwirkung und die passiven Anpassung.

Kritiksucht dient der Abwehr gegen die eigene seelische Erweiterung. Sie ist eine aktive Einwirkung auf den Partner. Sie hat die gleiche Wirkung wie die passive Anpassung: Aufrechterhaltung der Isolierung.

Die mangelnde Verbindung schmerzt. Ich werde zum Fehlerjäger: Das eigene Heil wird in der „Bekehrung“ (in welcher Form auch immer) des Anderen gesucht. Ich bin kritiksüchtig, weil ich die Verständigung nicht finde.

Der Schürzenjäger ist ebenso einsam: Er kann keine gemeinsamen Erfahrungen machen und bleibt isoliert. Seine Sucht nach Beziehung leitet sich fehl und wird zur Flucht. Je mehr er nach den Schürzen „jagt“ (auch wenn er sehr erfolgreich dabei ist), desto leerer und einsamer wird er.

Passive Anpassung und aktive Einwirkung als Kennzeichen der tödlichen Zweiheit kommen im gleichen Menschen oft zusammen vor. In dieser Ambivalenz tritt eine der beiden Eigenschaften als sichtbarer Charakterzug hervor, während die andere meist versteckt bleibt bzw. nur sporadisch sichtbar wird.

Die passive Anpassung kann bis zur sklavischen Anpassung gehen, die aktive Einwirkung bis zur Tyrannei. In allen Graden geschieht eine Kollusion: Ein unbewusstes Zusammenspiel zur Abwehr und Bewältigung gemeinsamer Ängste und Schuldgefühle.

Die Partner fühlen sich in diesem Handeln schicksalhaft verbunden. Emotionale Gegenrhythmen als Kennzeichen der tödlichen Zweiheit werden zu bedrohlichen Reaktionsmustern. Jeder hat das Gefühl, dass der andere ihn in entscheidenden Situationen im Stich lässt:

  • Der eine reagiert in Belastungssituationen durch Überreagierung hysterisch, der andere reagiert durch Rückzug in Erstarrung depressiv.
  • Der eine versucht durch fiebrige Reaktionen seine Spannungen loszuwerden, der andere wird gelähmt und zu keiner Bewegung mehr fähig.
  • Der passiv Angepasste kann durch hysterische Ausbrüche zum aktiv Einwirkenden werden, der aktiv Einwirkende kann durch Depressionen zum passiv Angepassten werden. Jeder übernimmt dann für kurze Zeit die gegengeschlechtliche Leitrolle aus der Kindheit, vor der man ja eigentlich die Flucht angetreten hat.
  • Der eine entwertet den Partner, um die Qual der eigenen Minderwertigkeit loszuwerden, der andere erhöht den Partner, um in dessen Glanz denjenigen der Mutter zu sehen. In seinem Überlegenheitsgefühl lässt sich der Entwerter gut lenken.

Das Grundgefühl der tödlichen Zweiheit ist angstvolles Misstrauen. Jeder Partner besitzt eine Spiegelexistenz, die sich jeweils in der anderen Seite des genannten Grundgefühls ausdrückt: Wertlosigkeit, Verlorenheit, fehlende Ich-Existenz.
Ich mache den Partner zum Schurken, um mein eigenes Schuldgefühl (z.B. über die Trennung) loszuwerden.

Ich darf nicht vergessen: Es gibt hier keine Schuld und keinen Freispruch, aber es gibt Mittäterschaft im Sinne von Mitbeteiligung.

Es gibt nichts das widerfährt, es gibt die eigene Erfahrung.
Es gilt nicht zu erleiden, es gilt zu tun.
Aus dem frühen Nein der anderen muss durch meine eigene energetische Kraft ein Ja zu mir selbst werden.
An Stelle des ewigen Abschieds voneinander muss der Abschied von der Selbstzerstörung treten.
 

Die älteste menschliche Wunde: ungeliebt sein

Die Wunde des Ungeliebten in mir wird nicht sterben, solange ich lebe. Sie soll nicht mehr brennen, doch die lebendige Erinnerung an ihren Schmerz wird bleiben. Die Wunde des Ungeliebten ist die Wunde des Menschseins schlechthin. Ungeliebt sind auch die Vielgeliebten, die „Affen“- Geliebten, die Fehlgeliebten. Mangel an Liebe hat viele Masken.

Die psychologischen Begriffe dazu heißen: symbiotisch, frühkindliche Frustrationen, mangelnde Empathie, narzistische Neurose.

Die Wunde entsteht, wenn das Kind keine bewusste Liebe, keine wahrhafte Liebe erfährt, das heißt, wenn das Kind nicht in seiner Besonderheit angenommen wird. Es entstehen frühe emotionale Verwüstungen, die Qual der eigenen Minderwertigkeit. Eltern, die ihre persönliche Norm gegen die des Kindes durchsetzen, lieben nicht wirklich.

Die schwachen, anlehnungsbedürftigen „großen“ Kinder sind von ihren Eltern nicht für voll genommen worden, sie wurden nicht ernst genommen – ein Ausdruck mangelnder Liebe.

Ungeliebtsein ist normal, weil Normen „normal“ sind. Die Normen bejahen nicht das Eigentliche, das Entscheidende in uns. Liebe ist anormal, weil sie auch alles das in uns bejaht, was die Normen verneinen.

Eltern, die ihr Kind in seinem Anderssein nicht lieben können, sind fehlgeleitet. Hat Elternliebe gefehlt, bemüht sich das Kind vielleicht ein Leben lang, diese von anderen Bezugspersonen zu bekommen. Nie hat das Kind gespürt, dass es voll und ganz – ohne wenn und aber – geliebt wird. Die Eltern wussten und fühlten nicht: Liebe bezieht sich auf das Ganze eines Menschen, nicht auf einzelne Züge oder auf einzelne Handlungen.

Viele Ungeliebte ältere Kinder flüchten in Leistungsdruck, um zu gefallen, um die fehlende Liebe zu erhalten. Es entsteht der Leistungsmensch aus Sehnsucht nach Liebe.

Warum verweigern Eltern die so notwendige echte Liebe? Sie ächten den nicht konformen kleinen Menschen. Ähnlich wie die bürgerliche Gesellschaft auf Ehebruch reagiert hat, so verhalten sich heute noch viele Eltern ihren rebellischen Kindern gegenüber: dem Schwächeren wird die Liebe verweigert.

So werden in Familien diejenigen, die sich von den anderen abheben und die leichter verwundbar sind, zugrunde gerichtet und von der Liebe ausgeschlossen. Ihr Untergang ist dann die Bestätigung, dass der Liebesentzug angebracht war.

Diese Kinder wurden unterdrückt, weil sie für das elterliche System gefährlich waren. Sie waren deshalb gefährlich, weil sie dem System überlegen waren – sie glaubten nicht an die Normen und versuchten sie für sich außer Kraft zu setzen. Wer als Erwachsener zu diesen Kindern gehört, muss aufhören, sich im Nachhinein Elternliebe bei Bezugspersonen herzuholen. Nur der Verzicht auf späte Elternliebe löst den Kreislauf.

Den Amoralischen gilt meine uneingeschränkte Sympathie, denn sie machen dem Leben Platz. Die tugendhaften Bürger mit ihren Zwangsideen geben uns einen Geschmack davon, was sie anderen antun werden. Wenn die Welt, in der ich aufgewachsen bin, zertrümmert am Boden liegt, dann ist die notwendige Verwüstungsarbeit geleistet, dann kann die Neuschöpfung beginnen.

Wenn der Drang nach Wandlung laut und immer lauter wird, gleichzeitig aber die alten Lasten lähmen, kann die Depression daherkommen. Der Sinn einer Depression liegt in der Loslösung von alten, hemmenden Lebensentwürfen. Depression will Neuschöpfung!

Der Ungeliebte, der sich schwach fühlt, bindet so viel Lebensenergie an seine verzweifelte Sehnsucht. Er braucht alle seine Stärke, um sich schwach zu halten. Das erwachsene Kind erkennt, dass es seinen Bezugspersonen, insbesonders seinem Partner nicht unterlegen ist – im Gegenteil – es gibt keine Macht anderer über mich: Der Verzicht auf späte Mutter- oder Vaterliebe ist in Gang gesetzt.

Wo wir nicht geliebt wurden, können wir selbst nicht lieben. Wer sich nicht selbst lieben kann, kann keinen anderen lieben. Der Ungeliebte, da er sich nicht selbst lieben kann, muss sich im anderen Menschen widerspiegeln. Er fühlt sich über den anderen Menschen. Durch diese Spiegelidentifikation entstehen affektive Abhängigkeiten und die Unfähigkeit, den Partner als anderen zu sehen und zu spüren.

Das Gefühl, nicht geliebt zu werden – obwohl alle Tatsachen dagegen sprechen – ist der Indikator dafür, dass man selbst nicht lieben kann. In jeder späteren Beziehung läuft nun bei scheinbarer Wiedererkennung (auf ein biographisches
„Stichwort“ hin) automatisch der negative Code, das alte Script, das Programm ungeliebt ab.

Allen Partnerkämpfen ist gemeinsam, dass sie zwei widersprüchliche Strebungen vereinigen wollen (was unmöglich ist):
Das Trauma aus der Kindheit sagt verzweifelt: „Nein, ich werde nicht geliebt!“
Das Ich sagt verzweifelt: „Es muss Liebe geben und ich will sie haben!“

Solche Partner treiben „Unliebesspiele“, die keine Zweier-, sondern Viererspiele sind, weil jeweils ein Elternteil der Partner (in der Regel der gegengeschlechtliche) immer unter einer Tarnkappe mitspielt. Bei diesen „Spielen“, die eigentlich Kämpfe sind, soll der Partner unausgesprochene Wünsche, ja Forderungen erfüllen.

Der Satz: „Ich werde brav sein, wenn du mich lieb hast“, ist das Beziehungsmotiv vieler Ungeliebter. Aber auch: „Ich glaube nicht, dass du mich liebst.“

Der Erfindungsreichtum fehlgeleiteter Liebe ist unendlich: Dosierter Liebesentzug, Bestrafung durch Missachtung, das Wecken von Schuldgefühlen (vielleicht mit dem traurigen Blick der nie zufriedenen Mutter, mit dem strafenden Blick des nie akzeptierenden Vaters) sind nur einige Strategien des Ungeliebten, um den Partner wieder in die „richtige“ Richtung zu lenken.

Dies alles sind unbewusste Spontanabläufe – eben Programme, die als Wiederholungsmuster ablaufen.
 

Sehnsucht nach dem Anderen

Ich bin auch ein Anderer. Ich sehne mich nach dem Anderen in mir. Diese Spannung zwischen dem Ich und dem anderen Ich ist meine Identität. Diese nie erfüllbare Sehnsucht nach meinem Doppelgänger, nach meiner anderen Seite, nach meinem Schatten lässt mich spüren, dass ich auch immer anders bin. ‚Ich ist ein Anderer, nicht nur jetzt und zufällig, sondern immer und wesenhaft’ (Jacques Lacan).

Die Welt des Anderen in mir macht Angst. Es ist der Finger auf der Wunde der Einsamkeit. Der Andere in mir berührt mich, wo ich verborgen sein möchte. Wird das Andersartige in mir von einem anderen Menschen entlarvt, fühle ich mich ausgestoßen und unglücklich.

Entschließe ich mich selbst, mein Anderssein zu enthüllen, durchdringe ich meine Isolation, flutet Liebe, Glück und Befreiung durch mich: die entscheidende Isolation ist durchbrochen, das Schändliche wird in eine Kostbarkeit umgewandelt. Ich bin mit meiner individuellen Andersartigkeit identisch geworden. Meine unbekannte Hälfte liebt mich!

Ich weiß jetzt, dass ich nicht mehr alles im Griff habe, dass ich mir selbst ständig entgleite. Ich verberge nicht mehr – nicht mehr mein existenziellen Ungeborgensein noch meine Einsamkeit. Indem ich mich in diese Realität des Ungeliebtseins und der Verlorenheit fallen lasse, bin ich zum ersten Mal mit der Welt wirklich verbunden. Ich liebe und weiß plötzlich, dass sich Einsamkeit und Liebe gegenseitig bedingen.

Einsamkeit lenkt die Energie in brachliegende Anteile der Persönlichkeit, die durch den starken äußeren Druck normalerweise ungelebt bleiben (C. G. Jung: progressive Regression).

Bin ich wirklich einsam, dann verzichte ich darauf, mich an Menschen, Denkgewohnheiten, Religionen anzuklammern, also wo auch immer einen Halt zu suchen. Indem ich diesen Verzicht leiste, befreie ich mich von der Illusion einer Welt, von der ich getrennt wäre und die mir ersetzen könnte, was ich selbst nicht bin.

Identität ist im Zwischen, ist in der Beziehung, nicht mehr in einer illusorischen Subjektivität. Ich muss vom Ichbewusstsein zum Beziehungsbewusstsein gelangen.
 

Die Selbstwahrnehmung im Spiegelbild des Anderen (Leitbildspiegelung)

Liebe ist die Begegnung zwischen dem, was der geliebte Mensch in mir wahrnimmt und für sein Leben braucht und dem, was ich in ihm wahrnehme und für mein Leben brauche.

Wenn ich mich im Anderen spiegele, das heißt wiedererkenne, fühle ich mich geborgen und geliebt. Wenn mir der andere fremd ist, das heißt, wenn ich mich in ihm nicht wiedererkenne, fühle ich mich ungeliebt.
Ich liebe einen Anderen, wenn er ein Bild (meist ein ‚heimliches’ Bild) meines Lebens ist.

Dies geschieht in drei Schritten:

  • Energie (Liebesenergie, die aus mir selbst kommt und verborgene, nicht gelebte Anteile darstellt) besetzt im Anderen Anteile, die für mich jetzt wichtig sind.
  • Ich hole vom Spiegelbild diese meine Anteile, die ich in den Anderen projiziert habe, zu mir zurück. Mein Lebenspotential wird durch diese bisher unbewussten Lebensanteile hoch belebt: Ich bin verliebt.
  • Die Lebensgestaltung wird neu geordnet, indem das Gespiegelte in mein Leben einfließt.

Die beiden ersten Schritte ereignen sich unbewusst, wenn sich zwei Menschen lieben.
Der dritte Schritt erfordert Bewusstheit und erzeugt einen Kreislauf der Liebesenergie.
 

Unglückliche Liebesbeziehungen

Nicht die Liebe, sondern die Angst vor ihr bedarf der Therapie. Liebe bricht spontan in mir auf, sobald die Widerstände gegen sie schwinden. Nicht die Liebe eines anderen Menschen kann mich letztendlich von meinen Wunden heilen, sondern die Liebe, die ich mir selbst gebe.

Zuerst muss die Angst vor der Selbstliebe aufgelöst werden – dann die Angst vor der Duliebe.

Ungeliebte fühlen sich als Erwachsene immer unter Druck etwas tun, etwas leisten zu müssen, weil das Normative anstatt Liebe erfahren wurde.

Auf diesem Hintergrund hat die Liebe zu einem anderen Menschen etwas Tragisches:
Diese Liebe bedeutet weniger Befreiung zu einem Menschen hin als Befreiung von der eigenen Versklavung durch lähmende Normen. Liebe ist dann Befreiung von der Vergangenheit und zielt nicht auf Zukünftiges. Liebe ist, dass alte Ketten fallen. Zu neuer Lebensgestaltung fehlt dann die Energie. Aus diesem Grunde haben Ungeliebte so lange unglückliche Liebesbeziehungen, bis sie sich von ihrem Kindheitsschicksal befreit haben.

Gelingt die Befreiung vom Kinderschicksal nicht, belasten die Ungeliebten Ihre Beziehung als Erwachsene genau dort, wo das kindliche Leiden am Größten war. Sie fallen immer wieder in ihr Kinderschicksal zurück. Durch diese Gesetzmäßigkeit schließen sich Ungeliebte immer wieder selbst von der Liebe aus.

Die bedrückende Lähmung, die von Partnern ausgehen kann, die lange beisammen sind, rührt oft daher, dass im gewohnten Beisammensein mit dem Partner das Gefühl für sich selbst verloren geht. Auch der Partner verschwindet aus dem Gefühl. Die Probleme erhalten quälenden und unlösbaren Charakter.
 

Nächstenliebe

Manche Menschen stürzen sich wegen mangelnder Eigenliebe – um auch Lust zu erlangen – in die Nächstenliebe. Dabei verlieren und verraten sie sich selbst. Es entstehen unbewusst ohnmächtige Aggressionen. Deshalb werden die Spezialisten der Nächstenliebe von Rivalität, Machtgier und Intoleranz zerfressen.

Nächstenliebe hat ihren Ursprung immer im Mangel an Selbstliebe und in verdrängter Machtgier.
 

Wirksätze

Verbundenheit mit der Welt (an ihre natürliche Gesetzmäßigkeit) bedeutet Gesundheit – Trennung von der Welt bedeutet Krankheit.

Selbstzerstörung ist, sich von der Welt zu trennen. Das Ich schafft eine Kriegsfront – vermeintlich nach außen – aber in Wirklichkeit nach innen.

Die Dinge sind richtig wie sie sind.

Das Gefühl von Einsamkeit kommt aus der inneren Trennung von sich selbst.

Die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal ist die Voraussetzung für die Verarbeitung von Problemen, die uns an die Vergangenheit ketten.

Den Mangel an Liebe als Kind gilt es als nicht mehr zu ändernde Realität zu bejahen.

Erst die Versöhnung schafft die notwendige Einheitlichkeit. Ich existiere – ich lebe – jetzt!

Es gilt, die oberflächlichen Prägungen, Fixierungen, Leiden usw. nach innen zu durchbrechen, um auf den Kern zu stoßen.

Ich lebe wie ich bin – reicht das nicht?

Bewertungszwänge und Vergleichszwänge machen das Leben einsam. Das Lebensgefühl muss von innen kommen.

Die Spaltung des ewig Zugkurzgekommenen hat aufgehört: Ich bin was ich empfinde!

Alles was mit mir geschieht bin ich selber, genau so, als hätte ich es selbst bewusst herbeigeführt.

Was ich nicht bin, sondern nur habe, das fehlt mir.

Angst entsteht in mir, wenn ich regelmäßig Empfindungen und Emotionen zurückdränge.

Leben ist: In Gedanken und in Gefühlen jetzt ganz anwesend zu sein.

Destruktiv ist nicht die negative Emotion (sie ist für das Erleben genau so wertvoll wie eine positive). Destruktiv ist allein die Negation der Negation.

Liebe deinen Nächsten, er ist wie du (Martin Buber).

Willst du umarmt werden, öffne deine Arme, willst du verstanden werden, versuche zu verstehen, usw.

Es ist besser allein, als in zehrender Abhängigkeit zu leben.
 

Wundheilung

Das Ziel der Wundheilung ist die Befreiung aus der Versklavung durch alte Lebensmuster:
Der in der Kindheit entstandene negative Code muss aufgelöst werden.

Buddha hat gelehrt, dass sich diese Wundheilung in 4 Schritten vollzieht:

  • Wachheit für reale Gegebenheiten
  • Beobachtung deren Umstände der Entwicklung
  • Erfahrung der Umstände des Vergehens
  • Die Fähigkeit, keine neue Entstehung mehr zuzulassen

Wir brauchen die Beziehung zum Kosmos zu eigenen Lebendigkeit, wir brauchen eine aktive Empfangsbereitschaft, keine infantile Erwartungshaltung. Wir brauchen systemsprengende Lebensenergie, um ganz zu werden.
Meister Eckehart: „Frag einer das Leben tausend Jahre lang: warum lebst du? – es würde antworten, wenn es sprechen könnte: ich lebe darum, dass ich lebe. Das kommt daher, dass das Leben aus seinem eigenen Grund lebt und aus sich selbst quillt. Darum lebt es ohne Worumwillen eben darin, dass es sich selbst lebt.

Wenn einer einen wirklichen Menschen, der aus seinem eigenen Grund wirkt, fragt: warum wirkst du deine Werke? – dann spräche dieser, sollte er genau antworten: ich wirke darum, dass ich wirke.“(2)

Wirkliches Leben heißt wirkliche Teilnahme, heißt bewusste Partizipation am Leben des anderen Menschen, heißt Resonanz und Mitsein, heißt mitfühlen (nicht Mitgefühl haben). Wirkliches Leben heißt nicht nur Lust unter Vermeidung von Leid, sondern auch Aggression, Trauer, Schmerz. Alle „negativen“ Emotionen sind ebenfalls Leben und Ausdruck unseres Lebenstriebes.

Ich muss meine unwirkliche Vollkommenheit eintauschen gegen eine wirkliche Unvollkommenheit!
Ich muss nichts ändern oder das Ganze meines Lebens.
Ich liebe mein Leben ohne Wenn und Aber.
Ich bin identisch mit meiner Wirklichkeit, ohne Normen, ohne Zielvorstellungen, ohne vorgeprägte Worte oder Handlungen. Das Leben ordnet sich selbst – ich muss es nur lassen.

Ich habe kein Bedürfnis mehr, mich Menschen und Dingen aufzuzwingen. Ich lebe aus dem Gefühl, dass Menschen und Dinge auf mich zukommen. Ich liefere mich nicht aus, sondern lasse geschehen – ich stimme zu, was sich ereignet.

Wenn ich von entspannter Wachheit bin, brauche ich Menschen nicht festzuhalten – deshalb gedeihen dann meine Beziehungen. Wenn ich nichts erreichen will, dann gelingt mir vieles. Nicht die Liebe eines anderen Menschen kann mich von frühem Ungeliebtsein heilen – heilen kann nur die Liebe, die ich mir selbst gebe.

Es gilt, die alte Liebe im Halten und Gehaltenwerden, im Haften und Verhaftetsein, die Liebe aus Schwäche und Verzweiflung hinter sich zu lassen. Ich finde dann eine Liebe vor, die auch Liebesferne, Ungeliebtsein und Einsamkeit
umfasst, die nichts bestimmtes will und offen ist. Es ist dies eine Liebe, die auch Liebeswunden heilt, weil sie auch diese Wunden lieben kann.

Es gilt, mich vom Ichbewusstsein, das mich isoliert, zu lösen. Es gilt aus einer Welt des Trennenden herauszukommen, aus einer Welt, die irrigerweise aus einzelnen Dingen, Körper, Begriffe zu bestehen scheint, hin zu reinen Beziehungen mit der Welt. Hier ist das einzige Bewusstsein das Beziehungsbewusstsein.

Das Ichbewusstsein erweitert sich, bis es sich im Beziehungsbewusstsein auflöst.

Es gibt kein Ich, das da als einzelnes Objekt wäre, und das auf irgendetwas zugehen könnte!

Es gibt kein: hier ich und dort das Andere.

Das Ichbewusstsein äußert sich in festen Identifizierungen mit etwas, was irrigerweise mit Ichstärke bezeichnet wird.
Diese so genannte Ichstärke schafft sich starre Identifizierungen und hat immer panische Angst, das zu verlieren, was das Ich sein soll. Das Aufrichten von Glaubenssätzen sind Mauern die verhindern, dass ich zum allumfassenden Beziehungsbewusstsein gelange. Ich lebe in sozialer Hypnose: Ich verwechsle das Geflecht meiner Verpflichtungen mit
dem Leben.

Wirkliche Selbstliebe ist von der Duliebe nicht zu unterscheiden. Es besteht kein Abstand zwischen der einen und der anderen. Wieder und wieder wird an springenden Punkten des Lebens die Wunde des Ungeliebten bei mir aufbrechen. Doch kenne ich die Richtung: ich werde erneut eine Abhängigkeit lösen, um Liebe zu ermöglichen. Die Wunde des Ungeliebten ist der Schoß, in dem ich viele Male geboren werde.

Mein höchstes Ziel? Das Ende jeglicher Fragestellung, das Ende meiner Verletzbarkeit, das Ende jeglicher Hoffnung.

Vergangenem hänge man nicht nach
Und hoffe auf die Zukunft nicht.
Was da vergangen, das ist abgetan,
Und die Zukunft ist noch nicht erreicht.

Buddha, mittlere Sammlung 131

Erläuterungen:
(1) Nach Peter Schellenbaum: „Abschied von der Selbstzerstörung“ und: „Die Wunde der Ungeliebten“. Es handelt sich hier um eine Zitatensammlung bzw. um zitatähnliche Formulierungen Schellenbaums, die nicht als solche gekennzeichnet sind.
(2) Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, S. 121

Text: Peter Schellenbaum

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