Carl Gustav Jung – Gedanken zur Spiritualität

Wer andere kennt
ist klug,
wer sich selbst kennt
ist weise.
Wer andere bezwingt
ist kraftvoll,
wer sich selbst bezwingt
ist unbesiegbar.
Wer sich zu begnügen weiß

ist reich,
wer sich durchsetzt
hat starken Willen.
Wer sein Wesen nicht verliert

währt lange,
wer dahingeht ohne zu vergehen

lebt ewig.

Lao Tse (ca. 550 v. Chr.): „Tao te king“ Vers 33


Wir leben in einem unglaublich großen Bewusstseins-Experiment der Natur. Das Atman-Projekt der ‚Bewusstwerdung von sich selbst‘ scheint sich einem Höhepunkt zu nähern. Dabei sieht es so aus, dass sich die Visionen der alten Weisheitslehren, seien es die Upanischaden, sei es die Lehre Buddhas, umkehren: Statt der verkündeten langsamen Höherentwicklung hin zum vollkommenen Menschen, der dadurch wieder zurückfindet zum Göttlichen (jetzt mit seinem Bewusstsein), zur Einheit alles dessen was ist, kann die Tieferentwicklung, die Entfernung vom Göttlichen, kaum noch weiter expandieren. Die Umkehrung vom Göttlichen als Ziel zum Satanischen als Ziel ist fast vollzogen, der negative Zielpunkt fast erreicht.

Fast 60 Jahre nach dem Tod des großen, spirituellen Psychologen Carl Gustav Jung (1875-1961), wird unser Bewusstsein heute mit Unglaublichem konfrontiert:
Die Zerstörung dieses Planeten, der Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt ist so weit fortgeschritten, dass ARMAGEDDON kurz bevorstehen könnte, die „Neue Weltordnung“, „die Rückkunft des „Herrn“. Dieser soll dann die Weltherrschaft übernehmen.

Die Frage stellt sich aber, wer denn dieser „Herr“ sein wird. Haben ihn diejenigen gerufen, die heute mit ganzer Kraft an der Zerstörung des Lebendigen auf diesem Planeten arbeiten?Oder konstruieren ihn wahnsinnig gewordene Gehirne, indem sie ihn selbst erschaffen? Es ist, so kann man überall spüren und sehen, eine weltumfassende Umwälzung im Gange. Wo geht sie hin?

Intakte Staaten werden in den Ruin getrieben, funktionierende Gesellschaftssysteme werden zerstört, Gruppenidentitäten werden aufgelöst, Geschlechteridentitäten werden aufgehoben, die Steuerungssysteme, welche den Menschen dienen sollen, versklaven diese. Jede Wertigkeit, die ein positives Leben zum Ziel hat, wird in ihr Gegenteil umgedeutet. Krieg ist Frieden. Sklaverei ist Freiheit. Wir alle sollen maschinenlesbar werden, digitale, „selbst“ denkende Systeme sollen den gewöhnlichen Menschen ablösen.

Wer steuert diese zerstörende selbst ernannte Elite, welche dies alles hinter der Maske des Guten ausführt? Wer ist diese kleine Gruppe, die meint, selbst unbeschadet eine Weltherrschaft errichten zu können?

In diese Zeit der Fassungslosigkeit des Geschehens hinein, ergeben die Gedanken zum eigenen inneren und identischen Selbst, welches nichts und niemand rauben kann, mehr als einen Sinn: Es sind Stützen, es sind Säulen, es sind Fundamente meines eigenen tatsächlichen Seins, die mich im Wirbel der Zeit aufrechterhalten.

Aus dem riesigen Werk C.G. Jungs habe ich das von ihm mit herausgegebene Buch: „Geheimnis der Goldenen Blüte“, das „Buch von Bewusstsein und Leben“ für diese kurze Darstellung ausgewählt. Jung hat eszusammen mit dem Übersetzer aus dem Chinesischen, Richard Wilhelm, realisiert. Der erste chinesische Druck war im 18. Jahrhundert, vorher wurde es handschriftlich überliefert. Im Original heißt es: TAI I GIN HUA DSUNG DSCHI.

Jung setzt sich als Mensch des westlichen Kulturkreises mit diesen Inhalten auseinander und transformiert sie ins für uns psychologisch Verstehbare. Auf das Markieren der wörtlichen Übernahme von Textpassagen habe ich verzichtet. Meine Leistung ist lediglich das logische Verbinden der Texte. Interpretationen meinerseits sind als Fußnoten erkennbar.


Es ist schwer für den Europäer, die östlichen Lehren zu verstehen

Der allgemeine Irrtum suchender Menschen, die in Berührung mit den östlichen Weisheitslehren kommen, ist der: Es wird gemeint, den Boden des westlichen Geistes verlassen zu müssen, um zu höherer Erkenntnis zu gelangen. Es werden Wörter, Begriffe, Riten übernommen, die niemals auf ein europäisches Gehirn aufgepfropft werden können. Wenn neue, fremde „Methoden“ gelernt werden, wenn sie additiv zum eigenen „Wissen“ als solches hinzugefügt werden, sind sie wertlos. Die vermeintliche Bewusstseinserweiterung wird zur reinen Nachsagerei. Diese begründet dann oft eine scheinbare seelische Überlegenheit, ein geheimes Wissen, das dann auch nach außen dargestellt wird.(1)

Nicht nur östliche Methoden haben keine Wirkung: Jede Methode ist an sich wirkungslos. Gleichzeitig ist auch das Gegenteil richtig: Jede Methode kann hilfreich sein. Nichts an Wirkung hängt an der Methode an sich! Ein Glaube an eine Methode ist ein Irrglaube. Es hängt in diesen Dingen alles am Menschen, nichts oder sehr wenig an der Methode.

Wir lesen bei einem alten Meister: „Wenn ein verkehrter Mann die rechten Mittel gebraucht, so wirkt das rechte Mittel verkehrt. Wenn ein rechter Mann sich verkehrter Mittel bedient, so wirken die verkehrten Mittel recht“.

Nachahmung über den Intellekt ist ein tragisches Missverständnis, welches die Seele nicht anhebt, sondern schädigt. Wir verwechseln Intellekt mit Geist. Geist, der alle Gemütsregungen, alles Fühlen umfasst (das ja ein Mitfühlen ist), geht weit über die tyrannischen Schranken des (gefühllosen) Intellekts hinaus.

Über diese Nachahmung hinausgehen heißt, die Botschaften des Ostens verstehen und das Verstandene in mein Leben, in mein Handeln, in mein Sein integrieren. Ich bleibe ich selbst und entwickle in mir den Verstehensweg mit Hilfe dieser Botschaften. Ich setzte das in Handeln um, still, humorvoll und ohne besondere Worte, was sich mir als neue Erkenntnis erschlossen hat.

Das kollektive Unbewusste

Es gibt einen gemeinsamen Grundstock, eine Ur-Basis des Bewusstseins aller Menschen aus einer Zeit, die vor ‚des sich selbst Erkennens‘ lag. So wie der Körper über alle Rassenunterschiede das gemeinsame Merkmal Mensch aufweist, so ist es auch mit der Psyche: Jenseits aller Kultur- und Bewusstseinsunterschiede gibt es eine Identität der Gehirnstruktur, das dem homo sapiens gemeinsame, das kollektive Unbewusste.

Alles, was unser Großhirn als Bewusstsein wahrnimmt und entwickelt, ist an diesen tiefen evolutionären Daseinsgrund nicht nur angekoppelt: Unser sich selbst bewusstes Bewusstsein ist eine individuelle Ausformung des kollektiven Urgrundes, eine Fortentwicklung. Leugne ich diesen Urgrund, werde ich psychisch gestört bis geisteskrank. Kann ich ihn integrieren, gelangt mein Bewusstsein auf eine höhere, transpersonale Stufe.

Hat nun mein Bewusstsein noch keinen hohen Helligkeitsgrad erreicht, dann korrespondiert es in seinen Funktionen stärker mit den unbewussten Trieben als mit seinem bewussten Willen. Es ist dann mehr ein Leben nach Instinkten als eines mit Bewusstsein. Der Affekt hat eine stärkere Kraft als das rationale Urteil.

Je kräftiger das Bewusstsein wird (und dadurch der bewusste Wille), desto mehr wird das Unbewusste in den Hintergrund gedrängt. Es geschieht eine Emanzipation von der unbewussten Vorlage hin zur Freiheit: Die instinkthaften Fesseln meiner evolutionären Ur-Muster werden gesprengt.

Das von seinen (hypnotisch wirkenden) Steuerungs-Wurzeln getrennte Bewusstsein unterliegt nun großen Gefahren, denn es kann ganz schnell in einen abnormen Zustand des Größenwahns (in tausend verschiedenen Formen und Abstufungen) verfallen. Die Endstufe wäre der „Cäsarenwahn“.

Es geht hier um eine einseitige Überspannung und Überbewertung des eigenen Bewusstseins, das als gnadenloses „Ich will“ erlebt wird: Ich gehe in der Endform tatsächlich über Leichen, um an mein Ziel zu gelangen.

Eine solche Totalentfernung vom unbewussten Urgrund lässt sich dieser, – der ja immer noch vorhanden ist, aber nicht mehr wahrgenommen wird -, nicht gefallen. Das kollektive Unbewusste richtet sich jetzt mit Macht gegen dieses entartete Bewusstsein. Es ist eine empirische Tatsache, dass ein solch gesteigertes Bewusstsein sich so weit von den Urbildern entfernt, dass der Zusammenbruch folgen muss. Und schon lange vor der Katastrophe melden sich die Zeichen des Irrtums, nämlich als Instinktlosigkeit, als Nervosität, als Desorientiertheit, als Verwicklung in unmögliche Situationen und Probleme usw. Der Wissende entdeckt ein Unbewusstes, welches sich in völliger Revolution gegen die Bewusstseinswerte befindet. (2)

Ein Problem kann sich niemals auf der Ebene seines Entstehens lösen

Probleme bestehen immer fort, wenn keine Niveauerhöhung des Bewusstseins erfolgt. In sich selbst, auf der Ebene des Geschehens, kann kein Problem gelöst werden.(3)

Erst durch die Erweiterung des Horizontes, durch eine neue, übergeordnete Sicht, durch eine neue Lebensrichtung löst sich das Problem. Es wird dann nicht durch eine Scheinlösung verdrängt, sondern durch einen Perspektivwechsel in anderem Licht gesehen. Das Problemist nicht mehr existent, es löst sich auf.

Meine Persönlichkeit hat ein höheres Niveau erreicht: Ich bin nicht mehr im Problem, sondern darüber. Ich bin nicht mehr unbewusst verwickelt, sondern ich kann diese Verwicklungen jetzt betrachten.(4)

Ein Problem, an welchem ich zuvor vielleicht gescheitert wäre, habe ich überwachsen.

Ein Problem ist im Kern immer Ausdruck eines Affektes, von welchem ich gequält werde. Meine neue Bewusstheit, meine Überwachsung verhindert das alte, immer wiederkehrende Spiel der Identifikation mit dem Affekt: Ich bin mit dem Affekt nicht mehr identisch, ich kann ihn jetzt als Objekt meiner Betrachtung handhaben. Ich bin Beobachter des Geschehens und dadurch zum Herrn des Geschehens geworden.

Die großen Lebensprobleme des Seins sind für uns Menschen sämtlich unlösbar.(5)

Wenn sie überwachsen werden, dann bedeutet dies, dass die übergeordnete Dimension gefunden wurde, dass das Bewusstsein eine Niveauerhöhung erfahren hat, dass das Problem tatsächlich verstanden wurde.(6)

Wo dieses Verstehen herkommt? Aus dem großen verdunkelten Feld aller Möglichkeiten, aus dem dunklen Feld des Unbewussten steigt es empor. Dieses Neue kann von außen kommen, als Anstoß von außen, dann verwandelt es sich in ein inneres Erleben. Oder das Neue kommt aus meinem Innen, dann verwandelt es mein äußeres Erleben.

Das Merkmal dieses neuen, tatsächlichen Verstehens ist, dass es nicht über meinen Willen herbeigeschafft werden kann. Mein Großhirn kann lediglich um Erkenntnis bitten, mehr nicht.(7)

Wie gelangt nun dieses neue Verstehen in meinen Geist? Einzig auf eine Art, welche beim westlichen Menschen großes Unverständnis hervorruft: durch Geschehen lassen. Aktives (inneres) Tun im (äußeren) Nicht-Tun. Meister Eckart nennt es: „Das sich lassen”.(8)

Der Schlüssel, um die bis dahin verschlossene Tür zu öffnen: Ich muss das Geschehen geschehen lassen können. Ich greife nicht ein: Ich helfe nicht, ich korrigiere nicht, ich negiere nicht und ich springe nicht dazwischen, damit etwas richtig gemacht wird. Ich erkenne: Mein ständig herumrotierendes Bewusstsein erzeugt in seiner Geschäftigkeit einen Bewusstseinskrampf, weil es sich überall einmischen will und alles besser wissen will.

Und wie handle ich, wenn ich geschehen lasse? Ich gehe prinzipiell von der Aktion in die Reaktion: Ich reduziere mein Handeln allein auf den jetzigen Augenblick. Hochwach registriere ich, was auf mich zukommt, entscheide aus der Intuition heraus und re-agiere. Dadurch strukturiere ich optimal das Geschehen, das sich ja aus meiner Reaktion heraus weiter entfaltet. Dadurch bestimmt mein identisches Ich, was weiter geschieht; dadurch komme ich erst gar nicht in Verwicklungen. Ich bin freundlich, meine Ansagen sind klar und ich steuere das, was zu steuern ist. Meine nächste Entscheidung fällt dann, wenn die sich aus meiner Entscheidung herausentwickelten Tatsachen wieder auf mich zukommen („Wenn es aus dem Walde zurückschallt“).

Der neue Weg I

Der neue Weg für den bis dato handlungsorientierten Menschen: Auch das für ihn Negative, das Irrationale und das Unbegreifliche als Geschehen annehmen.

Der Weg: Ich beobachte, was um mich und in mir geschieht und schiebe dabei mein Bewusstsein auf die Seite. Zum Eingreifen, zum Handeln suche ich mir allein das aus, was tatsächlich notwendig ist. Meister Lü Dsu lehrt: „Wenn die Geschäfte auf uns zukommen, so muss man sie annehmen; wenn die Dinge auf uns zukommen, so muss man sie bis auf den Grund erkennen.“

Der bis jetzt introvertierte Mensch wird auf dem neuen Weg das annehmen, was von außen kommt, der extrovertierte Mensch wird das annehmen, was von innen kommt. Eine Umkehrung des Wesens erfolgt: Typ I nimmt von außen an, was er nie zuvor von außen angenommen hätte, Typ II nimmt das von innen kommende an, was er zuvor vehement ausgeschlossen hatte.

Dabei ist von großer Wichtigkeit: Bei der Umkehrung des Wesens werden die alten Werte, wenn sie keine Illusionen waren, festgehalten und durch die neuen Werte erweitert. Eine neue Dimension der Persönlichkeit entsteht. (9)

Dieser Weg zu sich selbst, zum Jasagen zu sich selbst, ist in den westlichen Gesellschaften ein ‚Weg ohne Wiederkehr‘: Der Abendländer hat alle Autoritäten gegen sich, in intellektueller, moralischer und religiöser Hinsicht. Der Schritt zu höherem Bewusstsein führt aus allen Rückendeckungen und Sicherungen heraus. Der Mensch muss sich als Ganzes darangeben, denn nur aus seiner Integrität heraus kann er weitergehen.(10)

Der neue Weg heißt: Ich mache meine Bewusstseins-Abweichung, meine Bewusstseins-Entwurzelung vom Urgrund meines Seins wieder rückgängig. Ich kehre um. (11)

Meine Umkehrung ist meine Wiedervereinigung mit meinen unbewussten Lebensgesetzen. Daraus erfolgt ein Leben in Bewusstsein. Die alten Chinesen nennen dies: „Die Herstellung des TAO.“ „Im TAO leben“ bedeutet: Ich lebe hellwach und bewusst (in klarem Erkennen und Verstehen dessen, was ist) mein Leben.

Ich bin im Mittelpunkt des Kreises

Die Vereinigung meiner Gegensätze auf höherem Niveau hat nichts mit meiner Ratio zu tun, nichts mit meinem denkenden Verstand, nichts mit meinem Wollen. Es ist ein Entwicklungsprozess in meinem Innen, der sich in inneren Bildern ausdrückt.

Das Rad des Lebens hat, wie jedes reale Rad, einen Mittelpunkt der absoluten Ruhe, der Unbeweglichkeit. „Der Weg“ ist mein Gehen von der Peripherie aus hin zu diesem Mittelpunkt, vom Handlungs-Getöse in die Stille, in die Ruhe. Hier in der Mitte, die bewegungslos ist, ist mein heiliger Bezirk. Hier ist mein Ursprung und mein Sitz der Seele, hier ist die einst gehabte, dann verlorene Einheit von Leben und Bewusstsein. In diesem „leeren“, stillen Raum des „Nichtstun“ ist die (neu gefundene) Kommandozentrale meines Lebens: Die Peripherie ist dem Befehl des Zentralen unterstellt.

Das Bewusstsein auflösen

Das kollektive Unbewusste hat eine ungeheure Ausdehnung. Mein individuelles Bewusstsein agiert in engen Grenzen. Nun kann es geschehen, dass Inhalte des Unbewussten sich in eigene, autonome Teilsysteme aufgliedern, die mein Bewusstsein sozusagen überrennen. Es besteht die Gefahr der Zersprengung oder der Auflösung meines Bewusstseins. Autonome Komplexabspaltungen schieben mich dann in die Richtung von psychogenen Störungen wie Hysterie, Zwangsneurose o.ä, oder bis in die Psychose. Es sind dies Inhalte aus dem Unbewussten, welche das Bewusstsein nicht integrieren kann.

Jeder von uns kennt diese autonomen seelischen Inhalte aus vielen eigenen Erfahrungen: Gefühlsausbrüche, Affekte, ungesteuerte Handlungen, welche sich gegen unseren Willen und gegen unsere angestrengten Verdrängungsversuche eigenwillig durchsetzen. Sie überschwemmen das Ich und zwingen es unter ihren Willen; das Bewusstsein wird zersprengt.

Diese zur Herrschaft gelangenden irrationalen Teilsysteme sind besonders sichtbar bei Geisteskrankheiten allgemein, bei Persönlichkeitsspaltungen und weniger auffällig, weil gesellschaftlich noch akzeptiert, bei religiösen (und ins Religiöse verdrehte) „Wahrheits“-Phänomenen.

Das Tragische: Das mein Bewusstsein trübende bis auflösende autonome Teilsystem wird zum eigenen Bewusstseinsanteil erklärt, (da es in unserem Bewusstseinskult des Allein-Rationalen ein solches selbst agierendes und nicht kontrollierbares Teilsystem nicht geben darf).

Im Wahn leben

Unsere Gesellschaft lebt in einer Bewusstseinsbesessenheit mit fanatischer Leugnung der Existenz von autonomen Teilsystemen. Deshalb ist unsere Zeit so hochgradig entgöttert. Es gibt keine heiligen Plätze mehr, keine Heiligkeit, keine Ehrfurcht (und keine Achtung des Unbekannten, des Fremden), weil wir unsere unbewusste Psyche glattweg verleugnen. Und die ist dort (am eigenen, inneren heiligen Platz) angesiedelt.

Der Wahn geht bis dahin, zu meinen, man könne religiöse Ur-Inhalte intellektuell kritisieren. Man meint, eine Meinung darüber haben zu können, ob es Gott gibt oder nicht. Man meint, Gott einer Bejahung oder Verneinung unterwerfen zu können.(12)

Das Tragische: Leugne ich meine Teilsysteme als eigenständige Größe, so kann ich ihre Wirkung auf mich nicht verstehen. Ich verhindere mein Erkennen und dadurch die Aufnahme dieser Qualität in mein Bewusstsein. Da diese Ur-Mächte aber real sind und agieren, werden sie zu einem unerklärlichen Störfaktor meines Lebens. Diese negative Stör-Wirkung muss ich folglich einem bösen Willen zuschreiben, der außerhalb von mir ist – ein Schuldiger im Außen muss her! Diese individuelle Wahnbildung wird dann leicht zu einer kollektiven Wahnbildung, die in ihrer Massenpsychose ganze Völker versklavt oder vernichtet.

Wahn ist eine Besessenheit durch einen unbewussten Inhalt, der als solcher nicht ans Bewusstsein assimiliert wird. Hochmut und Überheblichkeit werden zum Wahn, weil das solcherart entgleiste Bewusstsein die Bereiche des eigenen Urgrundes leugnet. (13)

Diese das Bewusstsein steuernden Wahnideen sind die zornigen Götter unserer Vorfahren. Sie werden manifest und realisieren sich, wenn sie nicht gesehen und anerkannt werden. Diese alten Götter haben sich verwandelt, sie sind unsere Krankheiten geworden: Phobien, Zwänge, Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Psychosen. Zeus regiert nicht mehr den Olymp, sondern den Solarplexus. Er stört heute das Gehirn der Politiker und Journalisten, welche unwissentlich psychische Epidemien auslösen. Die gewaltsame Instinktverdrängung überspannt unsere Geistigkeit hysterisch und vergiftet diese. Wo das Göttliche nicht anerkannt wird, entsteht Selbst-Sucht. Und aus dieserSucht wird die Krankheit.

Das Bewusstsein vom Objekt trennen

Durch das Verstehen lösen wir uns von der Beherrschung durch das Unbewusste.

Ziel ist ein Loslösen von allen inneren und äußeren Verkettungen: Ich bin mir und allem um mich voll bewusst, jedoch nicht mehr identisch mit dem was geschieht. Die Fülle der Welt in mir und um mich ist zwar noch vorhanden, sie beherrscht jedoch mein Bewusstsein nicht mehr. Die Dinge werden erkannt, aber nicht mehr begehrt.

Die ursprüngliche Verflechtung meines Bewusstseins mit der Welt hat sich gelöst, weil ich mich aus den Verwicklungen herausziehe. Das Bewusstsein ist nicht mehr mit zwangsläufigen und zwanghaften Absichten erfüllt. Das neue Aufgabengebiet ist Schauen. Mein Bewusstsein wird zum Beobachter dessen, was geschieht, im Innen wie im Außen.

Dies ist der Quantensprung von der unbewussten Identität in die bewusste Identität! Ich bin nicht mehr identisch mit meinen Affekten und Vorurteilen und behaupte nicht mehr schamlos von anderen, was ich selbst bei mir nicht sehen will.

Wenn es mir gelingt, mein Unbewusstes neben meinem Bewusstsein als real anzuerkennen, und so zu leben, dass beide „Teile“ zu ihrem Recht kommen, dann ist das Ego, das „Ich“ nicht mehr mein Mittelpunkt. Das Ich bleibt mein Bewusstseinszentrum. Mein neues Identitäts-Zentrum liegt jetzt auf einem Punkt zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Dafür brauchen wir eine neue Begriffsbildung: „DAS SELBST“.(14)

Die Interpretation des Jung zugrunde liegenden chinesischen Textes lässt den Schluss zu, dass ein Mensch, der diesen seinen echten Platz nicht gefunden hat, außerhalb der menschlichen Ordnung stünde und darum an gestörtem psychischen Gleichgewicht litte.

Die Inhalte des Unbewussten müssen zuerst bewusst werden, um sich von ihnen befreien zu können

Jung zitiert aus dem Brief einer Patientin. Teile daraus möchte ich wiedergeben:
„Aus dem Bösen ist mir viel Gutes erwachsen. Das Stillehalten, Nichtverdrängen, Aufmerksamsein und, Hand in Hand damit gehend, das Annehmen der Wirklichkeitder Dinge wie sie sind und nicht wie ich sie wollte – hat mir seltsame Erkenntnisse und seltsame Kräfte gebracht, wie ich es mir früher nicht hätte vorstellen können. Ich dachte immer, wenn man die Dinge annehme, dann überwältigen sie einen; nun ist dies nicht so. Ich werde nun das Spiel des Lebens spielen, indem ich annehme, was mir jeweils derTag und das Leben bringt, Gutes und Böses, Sonne und Schatten, die ja beständig wechseln, und damit nehme ich mein eigenes Wesen mit seinem Positiven und Negativen an, und alles wird lebendiger. Was für ein Tor ich doch war! Wie habe ich alles nach meinem Kopf zwingen wollen!“

Erst mit solch einer Einstellung als Basis wird in mir eine höhere Bewusstseinsstufe wirksam werden können.

Der neue Weg II

Ich beginne mit dem Anderen, mit dem Fremden in mir, in Verbindung zu treten. Habe ich den Anspruch, bereits auf einem spirituellen Weg zu sein, dann schiebe ich alle metaphysischen Aussagen zur Seite, die einen besonderen Status verleihen sollen. Es gibt kein Geheimwissen und keine Geheimlehre. Ich gestehe mir mein absolutes Nichtwissen ein und gehe von der Schein-Erhabenheit in die Bescheidenheit. Metaphysisch ist nichts für mich zu begreifen, gleich welche Lehre ich mir zugrunde lege. Es gilt nur das, was ich selbst erfahren kann; jede Symbolik von außen, die für mich zur Lehre wird, ist eine fremde Dogmatik und verschleiert mein neues Bewusstsein. Gott kommt nicht zu mir, er ist schon in mir, er ist in meiner Seele enthalten.

Meister Eckart sagt: „Gott muss immerdar in der Seele geboren werden.“. Gott, „die Gottheit“, wie Eckhart sagt, ist die mächtige Regung meiner eigenen Seele. Deshalb muss ich mich nicht mit ihm im Außen beschäftigen.

Diese Wirklichkeit klingt banal – eben wie alles, das aus einem metaphysischen Schleier heraus Wirklichkeit wird. Mein SELBST ist meine Seelenverbindung und die Seele ist eine Welt, in welcher mein Ich enthalten ist.

Und hier beginnt eine weitere Erkenntnisstufe: Nicht ich atme, es atmet mich. Nicht ich lebe, es lebt mich!

Die Illusion, welche die Vormachtstellung des Bewusstseins erzeugt, glaubt: Ich lebe. Diese Illusion bricht zusammen. Ich bin Seele, ich bin Unbewusstes; mein Ich ist darin enthalten. Folglich gebe ich jetzt die Leitung meiner Lebensgeschäfte an diese unsichtbare Zentralstelle ab. Das subjektive: „Ich lebe“ ist zu einem objektiven: „Es lebt mich“ geworden.

Schon die einfachste Logik sagt mir, dass ich ebenfalls über-individuell sein muss, denn ich bin ohne meinen bewussten Willen in dieses Leben hineingeboren worden. Niemand hat mich(mein Ich)gefragt, ob ich hier als Mensch leben will!

Ein Gefühl der Befreiung ist die Folge, ein Gefühl von Versöhnung mit dem Geschehenden überhaupt. Christlich ausgedrückt ist dies das Gefühl, „Gottes Kind“ zu sein. Jedoch – die Erlösung der Welt geschieht nicht durch eine Gnade Gottes. Ich bin auch nicht für die Erlösung der Welt zuständig. Meine Erlösung beruht einzig auf meiner eigenen bewussten Anbindung an das vordem Unbewusste, an das göttliche Feld, an die Gottheit, von welcher wir alle kommen und wohin wir alle gehen.Dann überwinde ich auch die Angst vor dem Tod und erkenne, dass er sich als harmonischer Abschluss meines Lebensprozesses in das unendliche Kommen und Gehen einfügt.


Anmerkungen:

(1) Es entsteht das, was z.B. der Lama Chögyam Trungpa „spiritueller Materialismus“ nennt. Spiritueller Hochmut als Überheblichkeit dem gewöhnlichen Menschen gegenüber. Man gibt sich als Wissender deshalb, weil man „östliche Nachahmung“ betreibt. Ein hervorstechendes Merkmal ist die tägliche Irrealität im Beurteilen der Lebensvorgänge, weil auch das Negative, auch das Zerstörerische um uns in eine „Liebe und Licht“-Illusion gezwängt wird. Ein typischer neurotischer Verdrängungsmechanismus, der absolut nichts mit der gesuchten (und verkündeten) Erleuchtung zu tun hat.

(2) Hier greift das kosmische Resonanzprinzip, als Karma bekannt. „Wie ich in den Wald rufe, so schallt es zurück“, ist der harmlos klingende sprachliche Ausdruck eines gnadenlosen physikalischen Prinzips. Was dem Außenstehenden meist verborgen bleibt: Was hier geschieht ist karmische Barzahlung. Die Folge ereignet sich noch in diesem Leben als psychische Katastrophe.

(3) Die scheinbar gefundene Lösung, die durchaus einige Zeit funktionieren kann, ergibt immer ein neues Problem, das wiederum nach einer Lösung schreit. Erst wenn die höhere Dimension, die „3. Dimension“ gefunden wird, erledigt sich das Problem dauerhaft.

(4) Vom Unbewussten zu Bewussten vorzudringen heißt von der (eingebildeten) Irrealität in die (tatsächliche) Realität vorzudringen. Das kann harte Arbeit bedeuten und für die Beteiligten sehr schmerzhaft sein. Es gilt: Der Realität ist es vollkommen gleichgültig, ob ich sie akzeptiere oder nicht. Es liegt allein an mir, den Weg zu ihr zu finden.

(5) Als Teilnehmer eines sich selbst regulierenden, allumfassenden Systems kann ich niemals in die Verursachungsebene eindringen; ich kann nichts tatsächlich wissen, ich kann lediglich vermuten. Hier ist die Aussage von Osho angesiedelt: „Wer behauptet, er wisse etwas von Gott, der ist ein Betrüger. Zumindest betrügt er sich selbst.“

(6) Tatsächliches Verstehen ist ein zentraler Begriff des Weltenlehrers Yiddu Krishnamurti. Er sagt: Wenn ein Problem weiterbesteht, zeigt dies, dass es noch nicht wirklich verstanden wurde.

(7) Meister Eckart hat dies so formuliert: „Es gibt nur ein einziges Gebet, das eine Wirkung zeigt, das ist die Bitte um Erkenntnis.“

(8) Es ist das uralte taoistische Prinzip des Wu Wei, welches aus der Intuition heraus handelt und nicht aus dem planenden Großhirn heraus. „Handeln durch Nichthandeln“, die gängige Übersetzung von Wu Wei, ist auf den ersten Blick irreführend. Wenn ich den äußerlichen Handlungszwang ablege, aber im Innen hochaktiv bin, dann bin ich gewiss nicht im Nichthandeln. Ich handle nicht durch Herbeidenken oder durch Herbeireden oder gar durch Herbeimanipulieren eines Zieles, sondern durch inneres Öffnen meiner Kommunikationsbereitschaft zum göttlichen Feld, zum Unbewussten, wie es C.G. Jung nennt (zumindest scheint das Unbewusste ein aktiver Bestandteil des Feldes zu sein). Ich lasse geschehen und bin hellwach dabei und warte, was auf mich zukommt. Dann handle ich ohne Wenn und Aber.

(9) Viele so genannte spirituelle Menschen haben dies nicht verstanden und gehen einen Weg, der geradewegs in einer psychischen Erkrankung mündet: Sie werfen die alten Werte weg und kopieren lediglich die neuen Werte. Es entsteht keine Erweiterung der Persönlichkeit, sondern eine Gestörtheit, weil die bestehende Persönlichkeit jetzt gründlich (durch Nachsagen nichtverstandener Symbolik) ruiniert wird.

(10) Jung nennt den Bruch mit dem gesellschaftlichen Establishment als Voraussetzung für eine seelische Gesundheit. Das ist eine vernichtende Aussage zu unserem gesellschaftlichen System. Für denjenigen, der den Weg geht, ist dieses Erkennen eine mehr als große Herausforderung. Hier gilt es sehr behutsam, klar und intelligent zu handeln. Es gilt auch hier: „Wer in den Kampf zieht, kommt dabei um“.
Kein Wunder, dass Jung schonzu Lebzeiten äußerst angefeindet wurde. Seit seinem Tod wird versucht, ihn vergessen zu machen; eine Methode, die ebenfalls bei vielen anderen aufrechten Wissenschaftlern angewandt wird.

(11) Hier sei das Jesuswort erwähnt, das man von seiner Jahrhunderten alten Falschübersetzung „Tuet Buße!“ befreit hat. Es heißt jetzt, korrekt übersetzt: „Kehret um!“.

(12) Zu Thema „Gottbejahung“ sei Osho erwähnt, der gesagt hat: „Wenn jemand behauptet, er wüsste etwas von Gott, dann ist er ein Lügner. Zumindest belügt er sich selbst“.

(13) Setzt man, religiös ausgedrückt, das Unbewusste, diesen Urgrund, mit dem Göttlichen gleich, (Meister Eckhard: „Die Gottheit“) dann ist der heutige ‚rationale‘ Mensch, der nur das Materielle gelten lässt und sich vom Göttlichen gelöst hat, wahnsinnig. Jung schreibt hier, dass seine „Hybris, respektive Bewusstseinsenge, stets der kürzeste Weg zum Irrenhaus“ (ist).

(14) In sämtlichen heiligen Schriften ist von dieser Neugeburt die Rede und davon, dass wir durch diesen Perspektivwechsel zwar noch in der Welt sind, aber nicht mehr von der Welt.


Carl Gustav Jung –Gedanken zur Spiritualität

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