Die Weisheitslehre des Jiddu Krishnamurti

„So wie wir selbst sind, haben wir die Welt gemacht“

Jiddu Krishnamurti in: „Du bist die Welt“.


Was es ist

Es ist Unsinn,
sagt die Vernunft.
Es ist, was es ist,
sagt die Liebe.

Es ist Unglück,
sagt die Berechnung.
Es ist nichts als Schmerz,
sagt die Angst.
Es ist aussichtslos,
sagt die Einsicht.
Es ist, was es ist,
sagt die Liebe.

Es ist lächerlich,
sagt der Stolz.
Es ist lichtsinnig,
sagt die Vorsicht.
Es ist unmöglich,
sagt die Erfahrung.
es ist, was es ist,
sagt die Liebe.

Erich Fried

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Vorrede

Nach etwa zwanzigjährigem Studium des Buddhismus, der Upanischaden, der Taoisten und Zen, dann der Lehren Oshos und des Sufismus (ich bin Mitglied eines Sufiordens), „begegneten“ mir die Schriften Jiddu Krishnamurtis. Seine klare, unmissverständliche Sprache, die mit Osho viel gemeinsam hat, faszinierte mich. Seine „Technik“, keine Lehre zu verkünden, sondern an sein Publikum messerscharf logische Fragen zu stellen, faszinierte mich: Nicht er verkündet seine Wahrheit, er überlässt es mir, meinem Geist, die Antwort auf seine Fragestellungen zu finden. Buddhas „Weg aus dem Leid“ tut sich in mir auf, wenn ich selbst für mich Krishnamurtis Fragen beantworte; wahrlich faszinierend!

Wenn ich meine persönliche Entwicklung, diesen „meinen Weg“ beschreiben soll, dann war und ist diese Reise keinesfalls ein Weg hin zu höherem Wissen, zu Geheimnissen, welche dem gewöhnlichen Menschen verschlossen sind. Der Weg führte in keiner Weise „hoch“, im Sinne von höherstehend.

Im Gegenteil – ich hatte immer wieder den Eindruck, dass mich der Weg immerzu im Kreis führt. Jedoch, entscheidend, die Perspektive veränderte sich. Alles was tatsächlich, was wirklich war, blieb wie es war, aber mein Bild davon wurde immer wieder neu: Die Vorstellungen von etwas (oder gar von allem) veränderten sich – weg von Idealvorstellungen, weg von der Illusion – hin zur Wirklichkeit. Das war mit vielen Schmerzen verbunden, weil zusammen mit dem Hochmut langsam aber sicher abfiel: jedes scheinbar geheime Wissen und jede Art einer liebgewonnener, aber eingebildeter Spiritualität.

Zurück blieb das kleine Menschenkind. Im Sinne der „Welt“ durchaus erfolgreich und stark, aber wenn mir jemand aus den spirituellen Kreisen unterstellte, dass ich meinen Gott schon lange gefunden haben müsse, dann erforderte es doch Kraft, „nein, noch nicht“ sagen zu können, was in der Regel größtes Unverständnis hervorrief.

Wenn ich dann noch in solch einer Situation Osho zitierte, was ich sehr gerne tue, dann bekamen und bekommen die sich spirituell Dünkenden alle ihren Fluchtreflex. Osho meint: „Wenn jemand sagt, er wüsste etwas von Gott, dann ist er ein Betrüger, zumindest betrügt er sich selbst.“

Wie gesagt, ich war der tatsächlichen Realität schon sehr nahe, als ich auf Krishnamurti traf. Er ist für mich tatsächlich zum „Weltenlehrer“ geworden, so wie ihn die ‚Anthroposophische Gesellschaft‘ vorausgesagt hatte; er jedoch hat nicht nur dieses philosophische Gebäude verlassen, er hat alle Ketten gesprengt, welche Glaubensrichtungen jeglicher Art um ihre Anhänger legen.

Selbst die hinduistischen und die buddhistischen Meditationsübungen, die für viele von uns im Westen der Erkenntnis letzter Schluss zu sein scheinen, entschlüsselt Krishnamurti als reine Übungen des gequälten Geistes, der sich dadurch vor der Realität schützen will.

Das „was ist, wie es ist“, das ist der wunde Punkt in unserem Leben, der in aberhunderten von Verschleierungsformen verhüllt wird. Ich als Mensch gebe mich lieber einer lebenslangen (konditionierten) Illusion hin, einer Lebenslüge, als den Schmerz der Wirklichkeit anzunehmen. Ich befinde mich im Schlaf, weil mein Bewusstsein außengesteuert ist und im Schleier meiner religiösen, ideologischen oder idealistischen Illusionen lebt. Und für die Religion des wirtschaftlichen Erfolgs um jeden Preis und für die Religion des Konsumierens gilt seit eh und je: „Je lauter die Nacht und je greller das Licht, desto tiefer der Schlaf“.

Das Erwachen hin zur Wirklichkeit, um als selbsterkennender Mensch in Freiheit zu leben, das ist der Weg Krishnamurtis, den er aufzeigt; und außer dem Zeigen hat er nichts im Sinn – kein Glauben, kein Nachfolgen, keine Jüngerschaft, nichts dergleichen. Krishnamurti hat jegliche Organisationsform seiner Wegweisungen abgelehnt, denn: Es gibt keinen (sozusagen übergeordneten, „wahren“) Weg, der zu gehen wäre. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Jeder muss selbst erkennen, dann verstehen, dann handeln.

Die Richtung des Weges jedoch ist klar: Von der selbsterschaffenen Ich-Illusion hin zum Verstehen der Wirklichkeit; aus der Selbst-Einmauerung heraus in die Kommunikation mit allem was ist. Das Ziel ist die Befreiung aus dem Kerker, in welchen wir seit hunderten von Generationen hineinerzogen wurden.

Hier, sozusagen in einer Vorrede, mein persönlicher Versuch, dies in Worte zu fassen:

Die Suche nach Gott ist zu Ende.

Aus der Traum vom spirituellen Bewusstsein. Ende der Illusion des wissenden Nicht-Wissers.

Kein wohnlicher Platz mit transzendenter Konditionierung. Der Wanderer hat keinen Weg, keinen Pfad, nur einen Schritt in die leere Nicht-Menge, ein zügiges Gehen in das Nicht-Ich. In den Tod inmitten der bekannten Welt.

Das Licht trennt sich nicht vom Dunkel. Beides ist vorhanden und will umarmt werden. Ich bin verantwortlich für meinen Schmerz, für meine Dunkelheit, für mein Gefühl von mir selbst. Nichts ist linear, nichts kommt aus der Vergangenheit und geht in die Zukunft.

Wo ist die Vergangenheit? Wo ist die Wolke am Horizont vor einem Jahr? Muster des Gewesenen kerkern die Zukunft ein, bevor sie als Gegenwart erscheint. Wo ist die Zukunft? Wo ist die Welle im Ozean in einem Jahr?

Ich bin Kind des Augenblicks und zerbreche die Muster der Zeit. Ich bin leer und ohne Inhalt. Ich stehe am Abgrund und schaue weit; aber wohin? Lineares Bewusstsein: ein Traum. Der ewige Moment ist außerhalb der Zeit und bewegungslos. Alles, was tatsächlich ist, ist bewegungslos: die Nabe des Riesenrades Samsara.

Dann das sich unaufhörlich drehende Rad unseres pulsierenden Lebens, der wahrnehmbaren Wirklichkeit, der Wahrheit dessen, was Erscheinung ist.

Das Leben entfaltet sich vertikal und im Kreis. Der Augenblick muss erfasst werden, bevor ihn eine Definition verdunkelt. Wohin ich schaue? Jenseits aller Begrenzungen, dorthin, wo sich alle Situationen in Nichts auflösen.

Natürlich weiß ich, dass es „Nichts“ nicht gibt. Die Spiegelung der All-Einheit ist dieses Nichts – oder das Alles. Menschliche Benennungen sind dem großen ES eh völlig gleichgültig. Die Realität lacht mich aus, wenn ich sie einordnen oder bewerten will.

Es ist ihr völlig gleichgültig was ich meine – sie belässt mich in meiner Dunkelheit, wenn es sein muss bis zu meinem letzten Atemzug.

Inmitten der verzweifelten Menschheit allein zu stehen, einsam, aber im Gefühl der Liebe, wo kommt die Kraft her, wenn sie denn da ist? Kraft ohne Sicherheit. Kraft ohne Zugehörigkeit – wie der Grashalm im Wind. Sie muss von außerhalb der Zeit kommen, aus jener Ferne des Horizontes, zu dem ich immerwährend schaue. Die Tür zur anderen Welt öffnet sich einen Spalt und sendet ihr Licht der Liebe ohne jede Bedingung. Die Realität schaut in das Getöse der Zeit und antwortet demjenigen, der ruft.

Aus dem nichtzeitlichen Blickwinkel beobachte ich das Lebendige, das Strudeln der Ereignisse, den komplexen Irrgarten der Möglichkeiten, das sich endlos vermehrende Scheinwissen. Und ich beobachte das Verlorengehen in den eigenen Bildern, in den eigenen Deutungen, in den eigenen Vorstellungen wie die Welt sei.

Ich habe den Mut zu finden was tatsächlich wirklich ist. Ich habe den Mut der Welt verloren zu gehen. Ich habe den Mut mich selbst zu finden. Mein Gott, welch Abenteuer: zu leben ohne den Schutz der Vorurteile, ohne den Schutz dessen, was ich bereits kenne, ohne den Schutz der bereits gegebenen Antworten, ohne den Schutz einer Heiligen Schrift.

Ich reagiere nicht mehr auf das, was mich zum Handeln zwingen will. Reagieren ist handeln aus zweiter Hand. Ich bleibe unbekannt und gebe Antwort auf das, was im Jetzt-Moment auf mich einstürmt – ganz aus der Situation heraus. Ich klinke mich aus der Verrücktheit des Hin-und-her-Geschoben-Werdens aus. Ich klinke mich aus der Verrücktheit des Kaufens und Verkaufens aus. Ich versuche den kollektiven Fluch auszuhalten, in welchem sich die Menschheit befindet. Ich stelle mich der Schattenwelt und atme Licht ein. Ich bete dass es mir gelingt Liebe auszuatmen.

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Die Lehre

Wenn ich in einem kurzen Überblick die Kernbotschaft Krishnamurtis (1895-1986) wiedergebe, dann beziehe ich mich besonders auf sein Buch: „Du bist die Welt“, in der mir vorliegenden Ausgabe von 2006 aus dem Fischer-Taschenbuchverlag. Die Originalausgabe erschien 1972 bei Harper & Row, New York. Ich möchte betonen, dass ich viele seiner Redewendungen aus dieser Übersetzung wörtlich übernehme. Es ist keine Schrift über Krishnamurti, auch interpretiere ich ihn nicht. Meine Intention ist allein das Weitergeben seiner Botschaft. Dies in möglichst originärer Form, indem ich die vielen verschiedenen Aspekte hervorzuheben versuche, die immer wieder hin zum gleichen Kern, zur Realität führen.

Das ist alles. Und dies ist ganz, ganz viel, denn es ist nach seiner eigenen Aussage das einzig Zulässige eines Lehrenden (Es ist auch der einzige zulässige Weg eines Gurus. In seiner wörtlichen Übersetzung aus dem Sanskrit, heißt „Guru“: „Der den Weg zeigt“). Dies ist sein Weg, Krishnamurtis Weg, den er uns zur Verfügung stellt, für unseren Weg.

Das Ende jeder Illusion

Der Mensch hat mit all seine Sorgen, mit seiner Gewalttätigkeit, mit Angst, Habgier und seiner unaufhörlichen Konkurrenzsucht eine Struktur geschaffen, die wir Gesellschaft nennen. Es ist eine Gesellschaft, deren Moral Unmoral ist, weil sie den scheinbar Schwachen ausbeutet, den Menschen, das Tier und die Erde insgesamt.

Mit dem daraus erwachsenen Elend der Welt sehe ich die völlige Verantwortungslosigkeit des Menschen. In seiner sich abtrennenden Spaltung vom Anderen lebt der Mensch beziehungslos; es gibt in Wirklichkeit keine Beziehung, nur das Abzielen auf einen Vorteil auf jeder Ebene (Sicherheit als Ziel ist ebenfalls eine angestrebte Vorteilsnahme).

Was wir real haben, ist eine Vorstellung von Beziehung. Schauen wir genau hin, ist dies lediglich ein Bild, das wir zur Realität erklären. Kontakt oder Zusammenleben an sich ist keine Beziehung, denn Beziehung findet nur dann statt, wenn keine innere, keine psychische Spaltung herrscht zwischen hier und dort.

Unser Leben ist ein ständiger Kampf, der darin besteht, dass ich die Welt aufteile in die Welt innerhalb und außerhalb meiner Haut. Es ist die Abgrenzung zwischen dir und mir, zwischen Freund und Feind, zwischen innen und außen. Jeder zieht Kreise: um sich, um dich, um die Freunde, um die Familie, um die Glaubens- oder Wertegemeinschaft, um die Nation. Es entsteht eine grundsätzliche Abtrennung voneinander, die unweigerlich zu Konflikten führt.

Durch die Angst vor dem Anderen grenzen wir ganz und gar unsere private Welt gegen den Rest der Welt ab. Wir leben dadurch in ständiger Reibung, erleben andauernden Widerstand, erzeugen die verschiedensten Formen von neurotischem Verhalten und der Konflikt wird zum Normalzustand.

Meine vorgefassten Begriffe und Wertigkeiten prallen auf die vorgefassten Begriffe und Wertigkeiten des Restes der Welt. Das erzeugt Spannung, denn jeder sieht seine persönliche Sicht der Welt als Normalzustand, sieht die eigene Vorteilsuche als gerechtfertigt. Der eigene Geist ist von der Formel „mein“ geprägt: mein Besitz, mein Haus, meine Frau, mein Kind.

Gibt es einen größeren Unsinn, das mein zu nennen, was mir noch nie gehört hat und nie gehören wird? Dass ich eines Tages alles loslassen muss, was mir eh niemals gehört hat, beziehe ich diese Tatsache nicht in meine Lebensstrategie ein?

Mein Geist ist unfähig, zu erkennen, was wirklich ist und was Illusion. Er muss eine Mauer des Widerstands um sich bauen, der Angst und der Sorge. Was diese Mauer hoch und höher zieht? Mein illusionäres Ich-Konstrukt: Ich gegen den Rest der Welt. Vielleicht mache ich noch einigen Personen innerhalb der Mauer Platz (die natürlich ebenfalls mein sind) – aber dann: Wir gegen den Rest der Welt! Und damit haben wir Tag und Nacht Widerstand, Konflikt, ständigen Kampf und Schmerz, weil jede Bewegung, die mich vom Anderen abgrenzt, Schmerz und Konflikt hervorruft.

Wir besitzen einen Geist, der ständig dabei ist zu kalkulieren, zu vergleichen, zu streben, getrieben zu werden, endlos mit sich selbst zu schwätzen oder über andere herzuziehen. Ein solcher Geist kann niemals erkennen, was wahr ist, oder was falsch ist.

Als homo sapiens sitze ich in der Falle. Wenn ich in ihr sitze und mich befreien will, ist es müßig zu fragen, wer sie mir gestellt hat – ich will ihr entkommen! Jedoch, ohne das Verstehen, dass ich selbst die Falle bin, wird das nichts werden. Ich als Mensch bin von Natur aus aggressiv, brutal, egoistisch, hinterhältig, gemein und ich will dominieren. Und die Triebkraft für all das ist die Angst, sie bewirkt diese grundsätzliche aggressive Betriebsamkeit.

Lernen statt wissen

Ein Bewusstsein, das in der Realität leben will, benötigt den ständigen, den immerwährenden Lernprozess. Dieser entfaltet sich allein in der Gegenwart. Lernen ist ein Vorgang ohne jede Anhäufung, ohne Akkumulation, immer frisch und neu und ohne gespeichert werden zu können.

Speichere ich Gelerntes, dann wird es zu Wissen, wird es zu Vergangenheit, dann wird es Bestandteil jenes Vergangenheits-Speicher-Sackes, den ich mit mir herumschleppe. Dieser dient mir ohne Unterlass seine altbackenen Strategien an, um das Neue zu bewältigen. Kein Wunder, wenn dann meine akute Bewältigung des Lebens nicht gelingt!

Der Intellekt arbeitet immer linear. Intelligenz ist auf Wissen jedoch nicht angewiesen, sie ist sofortiges Erkennen der Zusammenhänge. Intelligenz ist Intuition, die bei mir angekommen ist. Sie drückt sich weder in Bildern aus, noch in Worten, denn sie ist plötzliches Verstehen, was vorher unverständlich war.

Wissen, welches ich durch Denken abrufen kann, ist natürlich gut, wenn ich in Konzentration eine Aufgabe erledigen muss. Wenn dann mein Wissensspeicher zu klein ausfällt, habe ich definitiv ein Problem; dies kann mich meinen Job oder sonst was kosten. Jedoch, das muss gut verstanden werden: Selbst wenn ich Wissens-„Weltmeister“ bin und viele, viele Lexika auswendig aufsagen kann, hat dies mit Intelligenz überhaupt nichts zu tun. Additives Wissen ist immer aus zweiter, wenn nicht gar aus dritter Hand und sagt lediglich etwas über die Fähigkeit aus, Gelerntes nachzusagen.

Lernen heißt, dass ich nicht verdränge, dass ich nicht versuche etwas zu werden, dass ich nichts nachahme und mich an nichts anpasse.

Die ständige Lernbewegung in der Realität ist ein Schauen, das ein unmittelbares Verstehen erzeugt. Mir wird eine Tatsache, die sich vor mit entfaltet, bewusst, so dass ich aktiv die Gegenwart durch mein Handeln beeinflussen und steuern kann („Handeln“ geschieht auch dann, wenn ich regungslos dasitze, von außen gesehen völlig unbeteiligt, und das Geschehen genauestens verfolge, sei es im Außen, sei es in meinem Innern).

Und allein dann, wenn ich meine Gegenwart in völliger Klarheit steuere, allein dann erschaffe ich mir meine Zukunft selbst. ‚Ich lenke das Leben‘ und nicht ‚das Leben lenkt mich‘. Dies ist Intelligenz, die keinerlei Vergleich braucht. Ich vergleiche mich und mein Handeln mit nichts und niemandem.

Allein in dieser „Bewegung von Augenblick zu Augenblick“ gelingt es, alle meine Möglichkeiten als Mensch zu aktivieren. Mit einem scharfen und präzisen Bewusstsein erkenne ich, dass diese Augenblickbewegung Lernen ist und Handeln (Tun) ist und Disziplin ist. Diese drei Begriffe beinhalten das Gleiche. Wir verabschieden uns vom verdrehten Begriff „Disziplin“ als Beschreibung von Konformität, von Unterdrückung und Kontrolle.

Ordnung in meinem Innern

Ich erkenne das Unwahre und dringe vor zum Wahren, zu dem, was wir Wahrheit nennen. Ich erkenne die Lüge der Welt und dringe vor zur Wahrhaftigkeit. Ich erkenne die Verkommenheit der Welt und dringe vor zur Redlichkeit. Ich erkenne die Unordnung der Welt und dringe vor zur Ordnung, in welcher sich die Schönheit erst zeigen kann. Die Unordnung muss zuerst bewusst erkannt werden, damit ich in die Ordnung vorstoßen kann.

Dieses Bewusstsein erschafft sich selbst einen hochdisziplinierten Geist, der sich in keiner Weise von falschen Angeboten und Verlockungen beeindrucken lässt. Niemand kann dann in mir falsche Emotionen anklicken, um mich dadurch in Marsch zu setzen. Habe ich das ganze Maß der Unordnung in der Welt in mir selbst entdeckt und verstanden, werde ich frei von ihr. Ich muss das Negative erkennen, um dem Positiven begegnen zu kennen; ich muss das Hässliche erkennen, um der Schönheit begegnen zu können (Wer Schönheit nicht erfühlen kann, der nimmt auch das Hässliche nicht wahr).

Die höchste Ordnung in meinem Innern kann durch keine Übung der Welt hergestellt werden, gleich wie sie heißt, woher sie kommt und welche Tradition sie hat. Ordnung entsteht allein durch das bewusste Horchen in die Realität nach innen (Wirklichkeitserkenntnis als Selbsterkenntnis) und in die Realität nach außen (Wirklichkeitserkenntnis als Reflexion des Realen). Übungen können mir helfen, diesen beiden Erkenntniszuständen näher zu kommen, ohne Frage, aber es liegt keine ursächliche Kraft in ihnen.

Um diese Ordnung in meinem Innern herzustellen, braucht es keinen Zeitfaktor. Das Erlangen von Bewusstheit ist schneller wie das Schnippen meiner Finger – Bewusstheit ist ein energetischer Blitzschlag, der sich außerhalb der Zeit abspielt. Ist dies geschehen, dann gilt: Für eine Bewusstheit, die erkennt, ist eine Wahlmöglichkeit im Handeln nicht mehr gegeben. Es gibt dann für mich diesen einen erkannten Weg und keinen zweiten.

Auf dieser Ebene der Klarheit und Wahrhaftigkeit gibt es kein Abwägen und schon gar kein Kalkulieren. Nur das verwirrte Bewusstsein trifft eine Wahl. Wenn man erkennt, was falsch und was wahr ist und danach handelt, dann stellt sich die Frage nach verschiedenen Möglichkeiten nicht mehr. Auch nicht die Frage, ob man jemanden kränkt oder erfreut. Wichtig ist, das Wahre zu erkennen – und dieses handelt dann durch mich hindurch.

Um im Heute diese Ordnung wieder herzustellen – die zur Freiheit führt – muss sich mein Bewusstsein von seiner Erfahrung trennen, jenem Sack, den ich mitschleppe und der mit den Lebensjahren immer schwerer und schwerer wird. Nicht dass ich diese Erfahrungen „löschen“ sollte, oder mir suggeriere, sie seien nicht gewesen, nein! Ich nehme ihnen jedoch die Kraft, auf das Heute einzuwirken. Ich ziehe sie nicht mehr als Vergleich heran, um das Heute zu bewerten: Trotz meiner abertausenden Erfahrungen ist mein Jetztbewusstsein frei; es ist frei von Vergangenheit. Die Vergangenheit war, ich kann mich an sie erinnern – aber sie hinterlässt keine Spur zur Orientierung heute; sie ist tot.

Die komplette Moral der Gesellschaft ist eine Unmoral, die als Grundlage Lust, Angst, Belohnung und Strafe hat. Krishnamurti sagt: „Tugend heißt Ordnung. Ordnung heißt Erkenntnis der Unordnung und Befreiung des Geistes von dieser Unordnung – der Unordnung der Gier, des Neids, der Brutalität und Angst. Tugend ist etwas Lebendiges. Um wirklich moralisch zu sein, muss man mit aller Ehrbarkeit Schluss machen – mit jener Ehrbarkeit, welche die Gesellschaft als moralisch akzeptiert. Sie können ehrgeizig, habgierig, neidisch, eifersüchtig, voller Gewalt, konkurrenzsüchtig, destruktiv, begierig zu töten sein, und die Gesellschaft wird trotzdem all dies für moralisch und folglich für äußerst ehrbar halten.“

Das Denken muss sich selbst negieren: Wenn es selbst sieht, was es anrichtet, erkennt das Denken, dass es aufhören muss. Das Denken erkennt, dass jede seiner Bewegungen Unordnung hervorruft – und allein durch die Negierung dieser Unordnung kann ich herauskommen. Der Weg aus dem Getöse der Welt, hin in die eigene, innere Stille, das ist die Negierung der Unordnung. Das Ergebnis der Veränderung von Unordnung ist die Stille. Das kann nicht deutlich genug verstanden werden: Stille, nicht Denken bewirkt Ordnung.

Erst wenn ich die Unordnung im Außen wie im Innen wahrnehme und bewusst ablehne, kann ich für mich eine Ordnung herstellen. Erst durch das Erkennen und Verstehen des Negativen, wird das Positive für mich erkennbar und erreichbar! Genauso ist es, wie schon gesagt, mit der Schönheit: Ein Mensch kann niemals etwas tatsächlich Schönes erkennen, wenn er das Hässliche um sich nicht als solches wahrnimmt.

Es ist dies analog der Wahrheitssuche: Erst über einen (fundamentalen) Zweifel kann ich zur Tatsächlichkeit vordringen. Es ist deshalb unendlich wichtig, dass ich prinzipiell alles bezweifle, was da an „Tatsachen“-Mitteilung auf mich zukommt. Natürlich muss ich den Punkt erkennen, an welchem der Zweifel beendet ist; dann weiß ich.

Die Ordnung in meinem Innern ist die Grundlage meiner Redlichkeit. Diese ist das, was schon Konfuzius Tugend genannt hat. In ihr ist Disziplin eingefaltet, jene authentische Qualität, die weder Unterdrückung ist, noch Nachahmung, noch Kontrolle.

Die Angst

Wenn ich mir die Landkarte meines Lebens betrachte, dann ist da eines meiner Hauptprobleme die Angst. Nicht die Angst, die mich vor einer realen Gefahr warnt, denn dies ist keine Angst, sondern Intelligenz; es die Angst schlechthin, unterschwellig immer ganz nahe bei mir: die Angst vor dem Leben, die Angst vor dem Sterben, die Angst zu versagen, nicht zu genügen, die Angst vor der Einsamkeit, die Angst nicht geliebt zu werden und hundert Ängste mehr. Und nicht zu sprechen von den neurotischen Ängsten: vor Tieren, vor Spinnen, vor Bakterien, vor Sonneneinstrahlung – aber keine Angst vor dem Atomkraftwerk nebenan.

Gehen wir eine Stufe tiefer, dann findet Angst allein im Denken statt. Von wegen „die Gedanken sind frei!“ Sie sind niemals frei, weil allesamt durch Konditionierungen geprägt. Natürlich kann ich mich von diesen Automatismen befreien, aber dies ist ein Akt der Bewusstheit, der nicht „einfach so“ über mich kommt.

Jeder Konflikt, der nicht tatsächlich gelöst werden kann, löst Angst aus. Da aber ein Konflikt innerhalb seiner Ebene der Entstehung nicht gelöst werden kann, ist die scheinbare Konfliktlösung (der „Kompromiss“, die „Übereinkunft“) lediglich eine Verschiebung des Konflikts, der dann an anderer Stelle wieder aufbricht. Es manifestiert sich eine Dauerangst, einmal stärker, einmmal schwächer, die durch Kontrollmechanismen gedämpft werden soll.

ie kann ich mein Bewusstsein von der Angst befreien? Und zwar jetzt, ohne Zeitfaktor? Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: Nicht vor der Angst zu fliehen, sie zuzulassen, ihr ins Angesicht schauen: Keinen Mut erzeugen, keinen Widerstand, keine Ausflucht, keine Verdrängung, keine Übungen gegen die Angst. Und schon gar keine Ideologie der Gewaltlosigkeit konstruieren, kein Ideal des „alles soll gut sein“. All diese Wege, die so viele Menschen gehen, sind eine Flucht vor dem was ist.

Wo Angst oder Furcht ist, da ist vielleicht das Erkennen da, es fehlt jedoch das tatsächliche Verstehen.

Wenn ich aber vor der Realität flüchte, wie könnte ich sie da verstehen? Es ist ein und dasselbe, ob die Flucht durch Gutmenschentum, durch Alkohol, durch andere Drogen, durch Sex oder durch Gott erfolgt. Ich bin immer auf der Flucht vor der Realität und seiner finalen Erkenntnis, dass ich irgendwann alles aufgeben muss, was mir lieb war; nichts war und ist jemals von Dauer, nichts war und ist jemals mein Eigentum.

Angst hat immer eine Verbindung zu einer fiktiven Zeitform, zur Vergangenheit oder zur Zukunft. Ich fürchte mich vor etwas, was bereits geschehen ist oder was noch geschehen könnte; und ich fürchte mich vor allem vor meiner Bedeutungslosigkeit, meiner Sinnlosigkeit, meiner Auflösung ins Nichts.

Wenn ich mich von jeglichem Glauben befreie, dann heißt das, dass ich mich von jeder Angst befreie. Jeder Glaube entsteht durch Angst. Um mein Bewusstsein für immer von Angst zu befreien, muss ich frei von Voreingenommenheit sein und von verzerrter Wahrnehmung.

Auch mein Sicherheitsbedürfnis entspringt der Angst, denn „Sicherheit“ ist eine Form des Glaubens: Ich will in allen meinen Lebensbereichen möglichst viel Gewissheit haben, ich möchte „sicher gehen“. Die einzige Sicherheit, die es gibt, ist die, dass es keine gibt; auch keine Dauer von irgendetwas, keine Festigkeit von irgendetwas. In dieser Gewissheit verbringe ich meine Tage: Es gibt nur heute, das Morgen haben wir erfunden.

Um angstfrei leben zu können, ist diese finale, diese tatsächliche Gewissheit nicht nur zu akzeptieren – ich muss in ihr leben: dann löse ich die Angst in mir. Dann bin ich nicht mehr aggressiv, dann lebe ich nicht mehr in Gewalt, dann bin ich tatsächlich frei und friedfertig.

Das Analysieren meiner Angst hilft nicht wirklich weiter, weil da wieder der Zwischenraum zwischen mir und meiner Angst ist. Auch wenn ich zu den Ursachen meiner Angst vorgedrungen bin, zu den Verursachern, ist dies noch nicht der befreiende Schritt.

Dieser ist aber schon ganz nahe, wenn ich erkenne, dass ich Angst bin und kein Beobachter meiner Angst; wenn der räumliche Abstand zwischen mir und meiner Angst verschwindet, wenn ich sie spüren kann, wie sie wie eine Wolke durch mich hindurchzieht, wenn ich in unmittelbarem Kontakt zu ihr stehe, wenn ich zu dieser Angst werde und sie akzeptiere.
Die Frage, wer für diese Angst im Außen verantwortlich zeichnet, ist nur noch akademisch interessant, nicht mehr wirklich. Nicht mehr: „Wer ist schuld?“, ist zu fragen, sondern: „Wie komme ich da raus?“.

In meiner Abgrenzung, in welcher ich lebe, erzeugt sich die Angst: Um mich die Ich-Mauer, dahinter das Nicht-Ich, das Alles-Andere.

Angst ist von Anfang bis Ende, wenn ich mich nicht von dieser Ich-Mauer befreien kann. Sie zerstört jede Freiheit, sie pervertiert jedes Denken, sie zerstört echte Gefühle, sie verhindert jede echte Beziehung: Angst vor Misserfolg, vor Einsamkeit, davor, nicht geliebt zu werden, vor der öffentlichen Meinung und tausend Variationen mehr.

Was auch erkannt werden muss: Jedes Messen an einem Ideal, an: ‚Wie es sein sollte‘, ruft Angst hervor, die ganz tief in mich hinein greifen kann, bis sie mich total umfasst. Es gibt in der Realität keinen Idealzustand, niemals. Deshalb ist ein Ideal nicht erreichbar.

Die Frage, die von mir zu beantworten ist: „Wie ist diese Mauer des Widerstands um mich entstanden?“. Bei der Beantwortung geht es nicht darum, eine Meinung zu äußern; die Antwort muss mit der Wirklichkeit übereinstimmen, damit sie wahr ist (Wahrheit ist ausschließlich Wirklichkeit. Eine Wahrheit, die nicht wirklich ist, ist keine).

Die Antwort ist so einfach und doch so schwierig umzusetzen: Ich wurde durch Worte, durch das Denken, durch „Außenpropaganda“ in meine Isolation hineinkonditioniert. Wenn es kein Nachdenken gäbe, sondern allein ein Handeln, das aus meinem eigenen, inneren Kern geleitet würde, gäbe es keine Angst.

Die Mauer fällt, wenn es keine Angst gibt. Die Mauer der Angst wird durch das Denken erzeugt. Durch dieses entstehen meine egozentrierten Aktivitäten innerhalb meiner Eingrenzung.

Das muss verstanden werden: Denken ist immer eine Eingrenzung, eine Verteidigung meiner Person und die Strategie, wie ich aus der momentanen Gegebenheit einen Nutzen, einen Vorteil ziehen kann: Denken ist Angst, (wenn es nicht der Analyse einer Situation dient, die ich in keiner Weise mit mir in Beziehung setze).

Wenn ich rein beobachte und dadurch intuitiv die Zusammenhänge erkenne, dann denke ich nicht, dann erfahre ich die Realität, so wie sie ist; dazu brauche ich keine bewertenden Gedanken! Und aus dieser erfahrenen Realität heraus handle ich, nicht aus meinen Gedanken darüber heraus. Logisches Denken ist absolut notwendig und positiv in der Welt der Technik und zur Bewältigung meines Alltags. Denken ist negativ, wenn es um menschliche Beziehungen geht, denn in dem Moment, in welchem sich das Nach-Denken einmischt, kommt Angst auf. Grübeln, Nachdenken, eben Denken, kann niemals zur Freiheit führen!

Ohne die Auflösung der Angst in mir, kann ich niemals herausfinden, was Wirklichkeit und was Wahrheit ist (und verstehen, dass beides das Gleiche ist).

Habe ich Angst vor dem Unbekannten? Nein, ich habe Angst, dass das Bekannte aufhört. Nach dem Aufbau meines jungen Lebens, nach dem Finden eines Platzes in der Gesellschaft und dem sich darin wohnlich machen, hätte ich gerne, dass alles so bleibt. Aber dann spüre ich und ich sehe es vor Augen, dass alles, was geworden ist, abbröckelt und plötzlich nicht mehr da ist. Das betrifft nicht nur Beziehungen zu Menschen, auch materielle Dinge sind von heute auf morgen nicht mehr vorhanden und ich vermisse schmerzlich, was selbstverständlich schien.

Diffus merke ich, dass das Sterben jeden Tag tausendfach um mich herum stattfindet und es drängt sich die Erkenntnis aus der Tiefe hoch: Irgendwann bin ich an der Reihe. Meine Angst ist die vor der Auflösung, die vor dem Fall ins Nichts, vor dem Verschwinden im Nichts.

Bin ich so weit mit meiner Erkenntnis gekommen, dann verstehe ich bereits. Dann bin ich vielleicht schon kurz vor der Auflösung jeglicher Angst in mir: Ich bitte alle Angstspeicher, sich zu öffnen, damit die jeweils eingekerkerte Angst ihre Freiheit bekommt. Ich bitte meine Traumspeicher der Angst, sich in Träumen zu öffnen, auch wenn der Inhalt sehr schmerzt. Aber dann ist die gespeicherte Angst frei. Ich bitte alle Ängste meiner Vorfahren, die über Mutter und Vater an mich weitergegeben wurden, sich aufzulösen; sie waren einmal als Schutz gedacht, jetzt sind sie frei.

Und all die Ängste, die noch bei mir geblieben sind? Diese nehme ich in den Arm, schaue sie an und spreche mit ihnen: „Ihr gehört zu mir, aber ich lasse Euch los, Ihr seid frei! Wenn Ihr noch eine Zeit bei mir bleiben wollt, gut, dann bleibt noch, ich halte Euch fest, bis ihr Euch entschlossen habt zu gehen. Ich weiß, dass ihr da wart, um mich zu schützen, um mir zu helfen. Aber die Situation hat sich geändert, Eure Hilfe ist zu Ende. Und Dank auch, dass ich nicht mehr auf der Flucht vor Euch sein muss, lasst Euch noch einmal fest drücken, bevor Ihr geht.“

Freiheit

Für die meisten von uns ist Freiheit etwas, das überhaupt nicht gewünscht wird, denn sie erfordert eine ungeheure Disziplin. Jedoch nicht die Disziplin des Gehorsams, die der Verdrängung und die oder Konformität, nein, dies sind alles Umdeutungen des Begriffs; Disziplin heißt Lernen. Der Vorgang des Lernens selbst ist Disziplin und dadurch erfolgt die Freiheit von jeglicher Verdrängung, von allem Nachahmen, von jeder Konditionierung.

Zu meinen, dass die Gedanken frei sind, ist ein frommer Wunsch, eigentlich glatter Unsinn, denn Denken ist die Antwort der Erinnerung auf das, was gerade geschieht. Meine Gedanken sind meine Erfahrungen, sind mein Wissen, sind mein Speicherinhalt und deshalb lediglich auf mich bezogen und ausnahmslos alt. Meine Gedanken sind immer konditioniert, das heißt unfrei, und können mich nicht zur Freiheit führen. Jeder von uns ist seine Vergangenheit; in mir ist nichts Neues.

Die Kraft, die Energie, welche mich aus dem Elend dieser Welt herausbringen kann, dies ist die Energie der Freiheit, das ist das Verlangen nach Freiheit. Freiheit ist keine Willkür, keine Revolte, kein undiszipliniertes Handeln oder ein Mangel an Disziplin, im Gegenteil: Freiheit verlangt große Disziplin! Jedoch nicht jene hässliche Disziplin, die wir normalerweise mit diesem Begriff assoziieren, wie Unterwerfung, Anpassung, Befehl und Gehorsam. Das Gegenteil ist der Fall: Disziplin ist Lernen. Was ist Lernen? Es ist Herausfinden was ist. Dies ist das Gegenteil einer Anpassung an ein vorhandenes Verhaltensmuster!

Diese Freiheit gibt mir die Energie, aus meiner Konditionierung der Angst, der Sorge und meines peinigenden Trübsinns auszubrechen.

Freiheit heißt auch, frei von Vergleichen zu sein. Wenn ich die Wirklichkeit sehe, wie sie tatsächlich ist, gibt es real keine Gegensätze mehr. Allein die Nicht-Realität ist der Gegensatz, auf den ich verzichten kann. Es gibt keinen Gegensatz ‚zu dem was ist‘, außer meiner Einbildung. Wenn ich ‚mit dem was ist‘ umgehen kann, dann gibt es keinen Konflikt, weil ich mich in der Realität weiß. Im Beziehungsgeflecht kann dann eventuell der Partner einen Konflikt erleiden, (eben wenn er sich nicht in der Realität befindet), aber nicht ich.

Leben ist deshalb ein dauernder, schmerzlicher Konflikt, weil ich als Lebensteilnehmer nicht ‚mit dem was ist‘ umgehen kann. Lebe ich in der Wirklichkeit, befreie ich meinem Geist vom Widerspruch der Gegensätze.

Freiheit heißt auch, dass ich die Hoffnung ablege, die eine bloße Annahme in die Zukunft hinein ist und die mein reales Sein verzerrt. Hoffnung ist eine Flucht, eine Ausflucht vor der Realität. Hoffnung übertüncht, verdeckt die Not, die Verzweiflung vor der Realität; ich will diese nicht sehen und akzeptieren, wie sie ist. Ziel ist: Meine Not, meine Angst, meine (stille) Verzweiflung zu sehen, sie anzuschauen, sie „in den Arm“ zu nehmen. Dieses Schauen (was Verstehen ist) ist die Befreiung meines Geistes, ist die Befreiung von meiner Angst.

Der Beobachter

Es gibt keine Trennung zwischen dem Beobachter und dem, das beobachtet wird. Diese Trennung ist nur scheinbar, weil ich alles, das nicht „ich“ ist, als etwas von mir Getrenntes annehme. Dies ist recht schwer zu verstehen, widerspricht es doch all meiner Lebenswahrnehmung. Von hier aus ist der Zugang zu dieser Tatsache vielleicht einleuchtender: Wenn ich mich selbst beobachte und meine Gedanken, meine Gefühle und Handlungen analysiere, ist der Beobachter (ich) gleichzeitig das Beobachtete (ebenfalls ich). Das Beobachter-Ich beseitigt sämtliche Barrieren von Beurteilung, Kritik und Urteil. Tatsächlich stehe ich nicht in mir hier und schaue in mich dort, denn ich bin beides in einem.

Die Folge dieses Nicht-getrennt-Erkennens hat enorme Auswirkungen auf meine Psyche: Wenn ich beides bin, entsteht kein Konflikt. Ich erkenne nicht meine Fehler und bekämpfe sie, ich bin meine Fehler und durch das genaue Anschauen verstehe ich sie. Dadurch verändern sie sich positiv, ohne Konflikt, ohne Kampf, ohne gute Vorsätze, ohne Qual.

Das nonverbale Begreifen und Verstehen macht alles analysierende Reden überflüssig – dies ist eine ungeheure Tatsache: Ich selbst bin die Angst, die in mir hochsteigt, ich selbst bin die Eifersucht, ich selbst bin die Wut, die Gier, die Irrationalität – ich selbst bin jede Qualität, die ich an mir feststellen kann. Und schon überhaupt nicht kann ich jemanden im Außen dafür verantwortlich machen.

Und genau hier ist die Meditation angesiedelt. Sie ist nur dann eine tatsächliche Meditation (und keine Entspannungsübung oder eine Übung, um in andere Welten zu gelangen), wenn sie bewusste Wahrnehmung meiner Angst ist und wenn sie ein Mittel der Stille ist, um in die Erkenntnis meiner selbst tief einzudringen.

Meditativ leben heißt, dass ich mich vollkommen darauf einlasse, was geschieht, und keinen Zwischenraum zulasse zwischen mir selbst und dem, was geschieht. Es gibt keine Beurteilung des Beobachters zu dem, was geschieht. Jeder Zwischenraum erlaubt dem Denken, sich einzumischen und zu vergleichen. Jeder Zwischenraum ist ein Filter meiner Konditionierung, meiner Vergangenheit und ist Konflikt.

Meditativ leben heißt, klar zu sehen was ist und sich vollkommen auf das Geschehen einlassen. Dann besteht zwischen mir und der Blume, die ich anschaue, kein Zwischenraum; ich sehe, erlebe, erfühle sie unmittelbar, wie sie zu mir spricht, wie sie sich mit mir verbindet. Ich bin kein Beobachter der Blume mehr, ich bin eins mit der Blume.

In der täglichen Auseinandersetzung heißt dies, dass ich erkenne und verstehe, was um mich und mit mir vorgeht. Jeder Vergleich mit irgendetwas erübrigt sich. Jede Bewertung ist überflüssig, denn ich weiß was geschieht. Und aus diesem Wissen heraus wird gehandelt. Ich werde nicht nur Teil dessen, was geschieht, ich bin das, was geschieht. Meditation ist kein visionärer, mystischer Zustand jenseits des Denkens und Handelns, sondern ein leichter und natürlicher Lebenszustand. Meditation ereignet sich allein in der Wahrnehmungs-Qualität des Geistes.

Für die Meditation gibt es keine Methode, die gültig wäre, denn eine Methode setzt voraus, dass sie von einem anderen festgelegt wurde, der angeblich weiß, dass diese Methode die richtige sei. Der Meditation liegt zugrunde: Schönheit, Redlichkeit, Ordnung und Tugend. (1)

Im Eins-Sein mit dem Vorgang oder dem Ding, zum Beispiel der Blume, gibt es kein abwägendes Handeln, kein Ausschau halten nach Vorteil, kein Kalkulieren darüber, was für mich besser sei. Ich handle in grundsätzlicher Zuneigung, in grundsätzlichem Wohlwollen, in grundsätzlicher Akzeptanz, in grundsätzlicher Achtung vor allem. Dieser Geisteszustand wird in allen Weisheitslehren „Liebe“ genannt. In ihr bzw. durch sie verschwindet der Zwischenraum zwischen den Dingen und in den Handlungsabläufen. (2)

Beobachten kann ich mich selbst nur in Beziehungen. Ich habe kein anderes Mittel, um mich selbst zu betrachten, weil ich (außer ich bin hochneurotisch/psychotisch) kein isoliertes menschliches Wesen bin. In diesen meinen Beziehungsgeflechten kann ich meine Reaktionen, meine Gedanken und Motive beobachten und ich kann non-verbal erkennen, was ich bin.

Dieses Beobachten muss bedingungslos bewusst sein, ohne eine Vorgabe, was richtig oder falsch sei. Ich beobachte, was sich tatsächlich abspielt. Die Freiheit von jeglicher Festlegung oder Bedingung ist Voraussetzung: Ich erforsche ohne Angst und – das ist anfangs schwer zu verstehen – ohne jeden Willen, das Erkannte verändern zu wollen. Wenn ich das Beobachtete als Unordnung in mir erkenne und verstehe, kommt die Veränderung, ohne dass ich dies willentlich thematisieren müsste (in der Regel wird jeder gute Vorsatz gebrochen). Die Veränderung geschieht über das Verstehen des Problems, nicht über den willentlichen Vorsatz, etwas ab sofort anders zu machen.

Über das Denken hinauskommen

Denken findet immer in der Vergangenheit statt, nie im aktuellen, erlebbaren, bewussten Jetztmoment. Denken ist die Reaktion auf Erinnerung, Wissen und Erfahrung. Denken ist immer ein Produkt der Vergangenheit und es kann mich unmöglich von meinen Zwängen und von meinen Ängsten befreien. Durch Nachdenken löst sich nicht eines meiner Lebensprobleme, im Gegenteil, sie verfestigen sich, weil ich mich noch tiefer in meinen Verwicklungen verfange. Ein Problem kann sich erst lösen, wenn ich es verstanden habe. Und Verstehen erlange ich niemals aus meinem Vergangenheitsspeicher heraus, also aus meinem Denken (Wäre dies so, dann hätte es ein Problem erst gar nicht gegeben).

Ein Problem, das ich verstanden habe existiert nicht mehr, denn durch das Verstehen ist mir die Lösung zugefallen. Mein Handeln wird ab diesem Moment ein völlig anderes sein! Wenn ein Problem fortbesteht, dann ist dies für mich ein sicheres Zeichen, dass ich das Problem noch nicht verstanden habe.

Noch einmal, es ist so wichtig zu verstehen: Denken, Nachdenken, ist ein Produkt der Mauer, die ich um mich gezogen habe. Ich bin als Beobachter innerhalb der Mauer, das Beobachtete ist außerhalb; Beobachter und Beobachtetes sind getrennt. Das auch, wenn ich nach innen gehe und meine Gefühle, meine Reaktionen oder mein Denken beobachte. Diese Trennung da: Ich, der Beobachter, beobachtet ein Phänomen in seinem Innern, das nicht der Beobachter ist, sondern als getrennt von ihm wahrgenommen wird.

Statt Denken oder Nachdenken, was mich in den Erinnerungsspeicher zieht, ist bei jeder Frage, die mich aktuell anspringt, die richtige Frage im Kontext zum Jetztmoment zu stellen. Kenne ich mich selbst tatsächlich, das heißt, kennt mein Bewusstsein mich selbst/sich selbst, dann liegt in dieser Frage bereits die Antwort eingefaltet. Ich muss nicht mehr nach jemandem Ausschau halten, der mir meine Frage beantwortet.

Jede echte Frage richtet sich an die Ursache des Geschehens, geht tief unter die sichtbare Oberfläche und hat somit die Antwort für mich. Die Antwort, das ist die gesuchte Klarheit, welche nichts mit irgendwelchen Schlussfolgerungen oder gar Meinungen zu tun hat.

Das muss verstanden werden: Eine Schlussfolgerung entsteht gemäß meiner Konditionierung, aufbewahrt im Erinnerungsspeicher. Das Ergebnis ist meine Meinung. Diese verschwendet Zeit und Energie und verhindert die Klarheit. Nur Narren äußern Meinungen: Jede Meinung ist ein Schlussfolgerung aus einem winzigen, mir zugänglichen Teilbereich. Diese Meinung verschließt jedes weitergehende Erkennen, denn eine Tatsache ist keine Meinung!

Wenn ich immer das sehe, was ist, dann sehe ich die Wirklichkeit, dann muss ich weder einen Schluss ziehen, noch mir eine Meinung bilden. Wenn ich dann dieses Gesehene in seiner tatsächlichen von mir erkannten Bedeutung weitergebe, dann biete ich keine Meinung an. An einem solchen Realvorgang ist das Denken zur Beurteilung nicht beteiligt. Zudem ist dies keine Beurteilung, denn das Geschehen spricht selbst, durch mich hindurch.
Dieser Punkt sollte ganz genau verstanden werden: Jede Tatsache, die ich beobachte, bedarf keiner Meinung. Eine Tatsache bedarf keines Kommentars und keiner Deutung. Wenn ich eine Tatsache sehe, so wie sie ist, dann kann ich diese selbstverständlich weitergeben, aber es ist keine Meinung. Diese Tatsache ist auch nicht diskutierbar oder interpretierbar. Es ist wie es ist, und dies und nichts anderes nehme ich zur Kenntnis! Niemand muss von mir diese Tatsache annehmen oder bestätigen; es genügt, wenn sie in meinem Bewusstsein ist, fertig.

Dieser Verstehens-Vorgang in neuer Aufmerksamkeit zeigt ganz deutlich auf, dass es unumgänglich ist, sich von jeglicher Beurteilung Anderer abzukoppeln, beziehungsweise die Nichtigkeit anderer Meinungen zu erkennen. Das macht natürlich einsam, aber Einsamkeit ist der Preis der Wirklichkeit.

Klarheit der Wahrnehmung

Klarheit der Wahrnehmung heißt, wirklich zu sehen, was ist. Ein verzweifelter Geist wird zynisch, ein von Hoffnung belasteter Geist ist voreingenommen.

Ich muss mir meiner selbst bewusst sein – eine gänzlich veränderte Sicht von ‚Selbstbewusstsein‘ – damit ich mich sehe wie ich bin, nicht wie ich sein möchte: Ich bin, eben weil ich Mensch bin, prinzipiell gewalttätig, brutal, habgierig und ich suche meinen Vorteil. Weil ich im Dunkeln lebe, lebe ich in Angst. Und Angst macht gewalttätig. Nur durch Auflösung meiner Angst verschwindet meine Gewaltbereitschaft.

Jeder von uns muss die Vorstellung dessen, ‚was er sein sollte‘ und ‚was sein sollte‘ völlig ausschalten; es zählt nur, was das Leben tatsächlich ist. Was existiert, ist das, was ist, nicht das, was ich anstrebe, was ich erhoffe, was ich erbitte. Wenn ich nach einem Ideal strebe, nach dem ‚was sein sollte‘, ist dies Energieverschwendung. Es ist Flucht vor dem, was ist. Mein persönliches Konzept von dem, ‚was sein sollte‘, ist ein Fluchtweg vor meiner Angst. Jeder Widerstand gegen das, was ist, ist eine Form der Angst: Ich blocke ab, ich flüchte, indem ich mir ein Konzept einer besseren Welt erstelle, indem ich nach Drogen greife, nach Alkohol, nach einem Glauben, einem Ideal.

Mein Gehirn, mein Geist wurde darauf konditioniert, Widerstand zu leisten. Jede Beziehung, und nicht nur die zu Menschen, wird zum Kampfplatz, wird zum Schlachtfeld meiner Falschbewertung.

Statt Widerstand zu leisten, geht es darum, Realität zu sehen, indem ich überhaupt nichts abblocke, was mir begegnet, weder Lust noch Schmerz: Ich will es verstehen, es anschauen, ihm nachgehen, es begreifen (nicht gut heißen, nicht ablehnen, nicht in irgend einer Art bewerten).

Jedes ‚Erkennen was ist‘, wird mir unmöglich, wenn ich mich in den Gegensatz zu den Dingen begebe.

Alles, was ich abblocke, spaltet mich vom wirklichen Leben ab und diese Spaltung erschafft den Konflikt. Jeder Widerspruch zu ‚dem was ist‘ und ‚dem was sein sollte‘ (was ich als meinen Wunsch durchsetzen möchte), schafft einen Konflikt.

Meine Realität ist, dass ich fortlaufend in Konflikten lebe. Natürlich will ich aus diesen Konflikten heraus und erfinde deshalb – wie gesagt – alle nur möglichen Fluchtwege, vom Fußball bis zur jeglicher Gottesvorstellung.

Durch meine immerwährenden Konflikte und die tiefe Trauer darüber, dass das Leben so ist, wie es ist, lebe ich im Elend. Und wie will ich diesem entkommen? Durch die klare Sicht der Realität? Nein, durch Religion, durch Wissenschaftsgläubigkeit, durch Alkohol, durch Wichtigtuerei oder Gelehrsamkeit, durch Sex oder durch jede Form von Unterhaltung und Spaß.

Jeder Konflikt wird durch den Gegensatz erzeugt. Der Gegensatz wird durch den Vergleich erzeugt. Erzeuge ich keine Vergleiche, gibt es auch keine Gegensätze. Es ist dies eine der ganz großen Konditionierungen, die wir verinnerlicht haben, dass wir vergleichen und uns selbst an anderen Menschen messen. Keiner von uns soll so bleiben, wie er ist, nein, jeder soll anders sein als er ist! Hier wird seit unzählbaren Generationen schon im Kleinkind dem späteren Elend die Basis gelegt.

Was noch in den Fokus gelegt werden muss: Mein Geist, wenn er sucht, findet immer das, was er sucht. Wo wird er fündig? In der Vergangenheit, weil alles, was gefunden werden kann, bereits bekannt sein muss! Jede Vision, die ich habe, z. B. von einer besseren Welt, ist die Projektion meiner eigenen, konditionierten Vergangenheit, kombiniert mit meiner Wunschvorstellung. So sieht der von Drogen geschärfte Geist (3) seine Vision genauso, wie der religiöse Geist Krishna, Buddha, Christus oder Maria sieht: eine Projektion des Innen, des bereits Vorhandenen. Das Dilemma: Der von der Vergangenheit gesteuerte Geist sieht nie das Neue, er reproduziert nur, auch wenn die Darstellung aufregend und scheinbar völlig neu sein sollte.

Was tatsächlich neu ist – und nur das kann mich auf meinem Lebensweg weiter bringen – kann niemals über den denkenden, den suchenden, den grübelnden Geist kommen. Es gelangt einzig über die Intuition zu mir, wenn ich zulasse, dass der große Speicher sich für mich ein weiteres Stückchen öffnet. Und dies geschieht allein auf der Basis der Selbsterkenntnis (im Innen) und der Realitätserkenntnis (im Außen).

Ziel: Den Geist transformieren

Um feststellen zu können ‚was ist‘, ist es zwingend notwendig, dass der Geist frei ist von jedem Vergleich, vom Ideal, vom Gegensatz. Erst dann kann ich sehen, dass ich zu dem gehöre, ‚was wirklich ist‘. Ich bin Teilnehmer und Partner von allem Lebendigen; ich bin Freund und Vertrauter von allem Lebendigen; ich bin eins mit allem Lebendigen. Jetzt ergibt sich die Lösung, bevor das Problem entsteht, bevor der Konflikt besteht. Wenn ich mich als eine Ausformung der Alleinheit begreife, als einen Teilnehmer unter allen anderen Teilnehmern, dann gibt es keinen Gegensatz mehr zu allem anderen Lebendigen. Natürlich ist alles andere anders als ich, eben will es eine andere Aufgabe hat, aber nichts steht im Gegensatz zu mir.
Erst dann, wenn es keine Teilung mehr gibt, keine Trennung zwischen mir und dem Anderen, gibt es echte Beziehungen. Und erst dann hören die Konflikte auf.

Nichts muss ich mehr bekämpfen, an nichts anderem muss ich mich mehr messen. Wer den Konflikt mit mir sucht, wer auf mich überzugreifen sucht, dem kann dies nicht gelingen, denn ich erkenne seine Absicht schon in den kleinsten Anfängen und lasse mich nicht verwickeln. Ich löse das sich anbahnende Problem bereits, bevor es entsteht, indem ich keinen Raum dafür zur Verfügung stelle (4).

Wer sich selbst nicht finden kann, meint dann vielleicht, dass er einen Helfer bräuchte, einen Guru, einen Lehrer, der ihm sagt, was er zu tun habe, um sein Leid zu beenden. Auch dieser Weg ist eine Flucht und endet unweigerlich in einer Sackgasse. Wir sind auch hier wieder konditioniert worden, zu glauben und zu folgen. Jeder Mensch, der behauptet zu wissen, weiß nichts. In der Regel suchen sich verwirrte Menschen einen Lehrer, der ihrer eigenen Verwirrung entspricht.
Es ist sinnlos, von einem anderen erfahren zu wollen, wie ich mich verhalten soll, wie ich leben soll. Der andere kann mir mitteilen, wie er für sich die Probleme des Lebens versucht zu lösen, mehr nicht. Und ich kann seine Strategie, wenn sie mir schlüssig erscheint, in meinen Weg mit einbauen, oder nicht.

Es gibt keine Macht außerhalb meiner selbst. Der Mensch, der andauernd ‚das was ist‘ umdeutet in ‚das was sein soll‘, hat eine Macht außerhalb seiner selbst erfunden, ein Ideal, einen Meister einen Gott, der dem Menschen Regeln vermittelt, um mit diesen seine Konflikte zu bewältigen. Hier trifft sich Krishnamurti punktgenau mit Osho, der sagte: „Wenn jemand sagt, er wüsste etwas von Gott, ist er ein Betrüger; zumindest betrügt er sich selbst“.
Die Erkenntnis ist sehr erschreckend: Ich verzichte auf jede Macht da draußen, ich bin auf mich selbst gestellt: Die Wahrheit die ich im Außen suche, ist bereits in mir selbst enthalten, ich muss nur den Müll entfernen, der sich über sie gelegt hat. Bei diesem „Ausgraben“ meiner tatsächlichen Identität, meiner Wirklichkeit und Wahrheit (was das Gleich ist), darf ich weder neurotisch werden, noch in sonstige emotionalen Störungen fallen. Was mir dabei hilft, ist das Selbst-Erkennen dessen, was in mir selbst ist und das Umsetzen dieser Qualitäten in Handeln.

Wenn ich mich selbst verstehe, verstehe ich mein Leid, dessen Verursachung ich fälschlich ins Außen verlegt habe. Wenn ich mich selbst verstehe, löst sich mein Leid auf – nur dann kann es aufhören. Das Ende des Leids ist der Anfang von Weisheit; sie beginnt, wenn das Leid endet.

Wichtig ist, dass ich mich selbst auf den Weg mache, denn es gibt keinen anderen, der mich führen könnte: Ich muss selbst sehen, wie die Welt ist: die allumfassende Konfusion und das unendliche Leid der Menschen. Ich muss dies tatsächlich sehen und spüren. Die Einsicht in die ganze Struktur des Elends bedeutet für mich sein Ende. Ich muss alles hinterfragen, an allem zweifeln, was mir begegnet, auch – und gerade – meine eigenen Schlussfolgerungen, meine Ideen, meine Urteile, damit ich an den Punkt komme, wo ich weiß. Dieses Wissen ist der Zielpunkt, an welchem jeder Zweifel ein Ende hat. „Freiheit von Zweifel“ ist deshalb eines der Merkmale des Menschen, der tatsächlich auf seinem Weg ist.

Das Verstehen braucht eine neue Qualität meiner Beobachtung. Diese ist deshalb fragwürdig und unklar, weil mein Bewusstsein verzerrt ist durch Hoffnung, durch Angst oder Verzweiflung. Ich beobachte in einem wettbewerbsorientierten, aggressiven Geisteszustand, auch wenn ich nach außen dieses durch Sanftmut überdecke. Je stärker ich mich im Außen als Gutmensch betätige, desto stärker brennt im Innen das Feuer der Aggression. Meine Wahrnehmung ist getrübt, gestört, verzerrt, umgedeutet oder gar komplett falsch, weil meine persönlichen Ansprüche die Leitschnur sind.

Dieser aggressive Grundzustand ist der des grundsätzlichen Vorteilsuchens und Vorteilnehmens, wo es sich auch nur anbietet. Dies kann „hemdsärmelig“ geschehen, durch sichtbares „durchboxen“, dies kann aber auch scheinbar demütig, unterwürfig oder als großartiger Helfer geschehen. Die Zielsetzung kann Geld oder Macht sein, aber auch Ehre und Anerkennung: als hochstehender Lehrer, als sich aufopfernder Helfer oder als Kämpfer für die Armen und Unterdrückten.

Die neue Qualität der Beobachtung finde ich allein durch Selbsterkenntnis, denn ohne sie fehlt mir jede Basis für irgendein reales, ernsthaftes Handeln, jede Grundlage, auf der sich etwas aufbauen ließe. Ich kann sehr klug sein und alle Bücher der Welt kennen, aber wenn ich mich selbst nicht kenne, wie sollte ich da über diese angelesene Oberfläche hinauskommen? Es gibt viele Menschen, die man klug nennt, doch sie wissen lediglich die Namen von den Dingen.

In der allumfassenden Falle des Profits und des Vorteilsdenkens, in welcher die meisten Menschen sitzen, kommt es niemals zur Selbsterkenntnis. In ihr hat Profitdenken nicht den geringsten Platz, also wird sie belächelt, gemieden und ausgeschlossen.

Selbsterkenntnis ist Selbsterforschung – und diese erfordert unbedingte Freiheit: Freiheit von Hypothesen, von Theorien, von Schlüssen, die ich ziehe und von Vorurteilen, die ich pflege. Jeder äußere Wandel, der sichtbar wird, ergibt nur dann einen Sinn, wenn in mir selbst eine Revolution stattfindet. Erst dann, wenn innen und außen die gleiche Bewegung stattfindet. Wenn ich für mich die Frage entschlüsseln will: Was heißt Leben?, dann gehört die zweite Frage dazu: „Was ist Liebe, was ist Tod?“. Im Umkehrschluss: Ohne zu wissen, was Liebe und Tod sind, können wir nicht wissen, was Leben ist.

Wenn ich frage, was Sterben ist, was der Tod ist, dann ist das keine neurotische Frage, im Gegenteil, sie zeigt, dass ich dann sehr gesund, vernünftig und im Gleichgewicht bin, denn sonst würde ich diese Frage nicht stellen: Ich habe keine Angst, bzw. ich bin mutig genug, die Antwort zu erfahren.

Die Antwort? Alles hört auf. „Seele“ oder „Atman“, oder wie das ewige Teil, das wir in uns vermuten, auch nennen, es ist nur ein Wort. Ich kann nur in mir selbst „wissen“, ob es ein bleibendes „Etwas“ gibt. Wenn ich sterbe, dann hört alles auf, was ich je gedacht, gefühlt, gekannt und geliebt habe: Familie, Kinder, Arbeit, Bücher, Visionen, eben einfach alles. Mein Sterben ist für mich der Weltuntergang. (5)

Sterben heißt aufgeben ohne jeden Widerstand, ohne ein Wort, ohne ein Argument, das es sowieso nicht gibt.

Wissen wir, dass Sterben jeden Tag Realität ist, in jeder Sekunde? Die unaufhörliche Bewegung des Lebens stirbt jede Sekunde millionenfach, um neu geboren zu werden. (6)

Lasse ich los, was sowieso nicht zu halten ist, dann werde ich frei, wach, lebendig, sensibel und ich gehe unbelastet in jeden neuen Tag. Loslassen heißt die Vergangenheit sterben lassen. Sie ist tot! Mit dieser täglichen Bewusstseins-Übung gehe ich gänzlich anders auf mein Alter zu: Ich fürchte mich nicht mehr alt zu werden und alt zu sein.

Krishnamurti sagt uns:

„Der Drang, herauszufinden, was Wahrheit ist, was Gott ist, ist der einzige wahre Drang, und alle anderen Bestrebungen sind nachgeordnet. … Die Menschen, die nach der Wahrheit suchen, nach Gott – nur solche Menschen können eine neue Zivilisation schaffen, eine neue Kultur; nicht jene Menschen, die sich anpassen oder die sich nur innerhalb des Gefängnisses alter Konditionierungen erheben. …

Es muss jene geben, die sich auflehnen, die nicht teilweise, sondern total gegen das Alte aufstehen, denn nur solche Leute können eine neue Welt schaffen – eine Welt, die nicht auf Besitz, Macht und Prestige aufgebaut ist. … eine Welt, die völlig anders sein muss als die gegenwärtige. … Es ist unsere Erde, sie gehört nicht irgendjemandem sonst; es ist nicht nur die Erde der Reichen, sie gehört nicht nur ausschließlich den mächtigen Herrschern, sondern sie ist unsere Erde, Ihre und meine.“

Anmerkungen
(1) Im Sinne von Konfuzius beinhalten diese Begriffe die gleiche Qualität. Tugend ist in diesem Sinn weder eine moralische Kategorie noch ein Ideal. Einem Ideal nachstreben heißt: ich bin nicht, wie ich tatsächlich bin, sondern wie ich sein möchte. Das heute so verbreitete Gutmenschentum ruft den anderen zu: „Schaut her, ich bin wie ich sein möchte“. Dies ist unaufrichtig und zutiefst unehrlich.

(2) Buddha nennt Liebe das „grundsätzliche Wohlwollen allem Lebendigen gegenüber“. Die Physik sagt uns, dass auch Materie lebendig ist und unser Planet insgesamt ein Lebewesen. Bei Buddha ist diese Liebe in jenen Zustand eingeschlossen, den er „liebende Güte“ nennt. Diese ist die Bedeutung von Liebe und von „in Liebe leben“. Liebe, das ist weder das biologische Programm des Menschen, noch das Gutmenschentum, welches das Negative schönredet oder umdeutet. Liebe ist eine grundsätzliche, aber glasklare und unbeirrbare Lebenshaltung, die durch nichts und niemanden ‚aufgeweicht‘ oder zerstört werden kann; mein gesprochenes oder gehandeltes Nein innerhalb dieser Lebenshaltung in Liebe kann jedoch ungeheuer schmerzhaft sein (auch für mich) und größtes Unverständnis hervorrufen.

(3) Es gibt natürlich auch den durch Drogen stillgelegten Geist, wie es beim Alkohol der Fall ist. Hier schotte ich mich gegen die Wirklichkeit ab, leiste Widerstand gegen die Realität, gegen die Angst. Ich verkrieche mich in mein Innen, phantasiere die Welt und zerstöre mich langsam organisch und psychisch. Ich kann an der Suche nach einer Lösung für mein Leben zugrunde gehen. Jeder Alkoholiker ist ein Gottsucher und weiß es in der Regel nicht.

(4) Lao Tse in „Tao Te King Vers 64: „Man muss auf eine Sache einwirken, bevor sie entsteht. Man muss eine Sache ordnen, bevor sie verwirrt ist“.

(5) Es gibt im Orient viele Geschichten vom weisen Narren Mullah Nasrudin. Er wird eines Tages von Gelehrten gefragt, ob er wüsste, wann der Weltuntergang stattfindet. „Ja, natürlich“, antwortete er. „Es gibt sogar zwei Weltuntergänge“. Da mussten die Gelehrten doch lachen und baten um Erläuterung. „Es gibt einen kleinen Weltuntergang und einen großen“, sagte Nasrudin. „Wenn meine Frau stirbt, dann ist es für mich der kleine Weltuntergang; wenn ich selber sterbe, ist es der große.“

(6) Der Quantenphysiker Fritz-Albert Popp hat errechnet, dass jede Sekunde ca. 10 Millionen Zellen im biologischen System Mensch absterben, um den neu geborenen Zellen am gleichen Platz, mit gleicher Funktion, Platz zu machen.

Verwendete Quellen:
J.Krishnamurti:
„Du bist die Welt“, Fischer; Erstauflage 1993, Originalausgabe New York 1972
„Das Wesentliche ist einfach“, Herder 2010
„Was wir für ein erfülltes Leben brauchen“, Goldmann 2013
„Tausend Jahre an einem Tag“, H.J.Maurer 2013
„Einbruch in die Freiheit“, Lotus 2015
„Die Zukunft ist jetzt“, Fischer 2012
„Über die Liebe“, Aquamarin 2000
„Der Flug des Adlers“, Fischer 2007
„Über Leben und Sterben!, Fischer 2014


Krishnamurti – Briefe an einen Freund:

1. Brief an einen Freund

Sei geistig beweglich. Kraft liegt nicht darin, dass man unbeweglich und stark ist, sondern in der Anpassungsfähigkeit. Der biegsame Baum bleibt im Sturm stehen. Erwirb die Kraft eines flexiblen Bewusstseins.

Das Leben ist seltsam, so viele Dinge geschehen unerwartet, aber Dein Widerstand wird Dir nicht helfen, auch nur ein einziges Problem zu lösen. Man braucht unendliche Anpassungsfähigkeit und ein ruhiges Herz.

Das Leben ist wie die Schneide einer Rasierklinge; man muss versuchen, mit äußerster Achtsamkeit und Weisheit auf diesem Pfad zu gehen.

Das Leben ist so reich, birgt so viele Schätze, aber wir gehen mit leeren Herzen hindurch; wir wissen nicht, wie wir unsere Herzen mit dem überfließenden Reichtum des Lebens füllen können. Wir sind innerlich arm, und wenn uns das Leben seine Schätze anbietet, weisen wir sie zurück. Liebe ist eine gefährliche Angelegenheit, aber sie allein kann eine innere Umwälzung bewirken und uns wahrhaft glücklich machen. So wenige von uns wissen wirklich, was Liebe* ist; so viele wollen die Liebe nicht. Wir lieben nach unseren eigenen Vorstellungen und Bedingungen und machen aus der Liebe ein Geschäft. Wir haben Krämerseelen, aber die Liebe lässt sich nicht vermarkten, sie ist kein Tauschgeschäft. Sie ist ein Seinszustand, im dem alle Probleme des Menschen sich auflösen. Wir gehen mit einem Fingerhut zum Brunnen, und so wird das Leben zu einer kümmerlichen Angelegenheit, ärmlich und dumpf.

Die Erde könnte ein so schöner Ort sein; da ist so viel Lieblichkeit, soviel Herrlichkeit, soviel unvergängliche Schönheit. Doch wir sind gefangen in unserem leid und sind nicht einmal daran interessiert, unser Gefängnis zu verlassen, selbst dann nicht, wenn jemand uns einen Weg in die Freiheit zeigt.

Man muss vor Liebe lodern. Sie ist wie eine unzerstörbare Flamme. Man hat so viel davon, dass man sie mit jedem teilen möchte und es auch tut. Sie ist wie ein kraftvoller Fluss, der jede Stadt und jedes Dorf fruchtbar machen kann.. Er wird verschmutzt, weil der Mensch seinen Abfall hineinleert; aber dieses Wasser reinigt sich selbst und fließt munter weiter. Nichts kann die Liebe zerstören, denn alle Dinge lösen sich in ihr auf – das Gute und das Böse, das Hässliche und das Schöne. Die Liebe ist das Einzige, das seine eigene Ewigkeit in sich trägt.

*Liebe – im Sinne Buddhas – ist als ein grundsätzliches Wohlwollen allem Lebendigen gegenüber zu verstehen/zu verwirklichen.

Quelle: J. Krishnamurti in : „Tausend Jahre an einem Tag“, Verlag H. J .Maurer, 4. Auflage 2013


2. Brief an einen Freund

Die Bäume sind so majestätisch; sie scheren sich nicht um die geteerten Straßen des Menschen und all seine Hast. Ihre Wurzeln reichen tief in die Erde, und ihre Äste strecken sich dem Himmel entgegen.

Auch wir sind in der Erde verwurzelt, und das ist gut und richtig so, aber die meisten von uns kriechen über die Erde, nur wenige haben den Mut, sich aufzurichten und sich dem Himmel entgegenzustrecken. Sie sind die einzigen kreativen und glücklichen Menschen. Der Rest der Menschheit ist damit beschäftigt, sich gegenseitig zu zerstören und sich diese wunderbare Erde zur Hölle zu machen.

Sei offen. Lebe in der Vergangenheit, wenn es sein muss, aber kämpfe nicht gegen sie. Wenn die Vergangenheit Dich einholt, dann schau sie Dir an, schiebe sie nicht weg, aber klammere Dich auch nicht daran. Die Erfahrung all dieser Jahre, die Schmerzen und die Freude, die harten Schläge und die Momente, in denen kurz das Gefühl der Distanz aufblitzte, das Gefühl, weit weg von allem zu sein, all das trug dazu bei, Dein Leben reicher und schöner zu machen. Was Du in Deinem Herzen hast, das allein zählt. Und da Dein Herz überfließt, hast Du alles, bist Du alles.

Achte auf Deine Gedanken und Gefühle und lass nicht einen einzigen Gedanken, nicht ein einziges Gefühl entwischen, ohne es Dir bewusst gemacht und seinen Inhalt verarbeitet zu haben. Verarbeiten ist nicht das richtige Wort; es geht darum, den gesamten Inhalt des Fühlens und Denkens zu sehen. Es ist so, als ob man einen Raum betritt und das gesamte Interieur des Raumes auf einmal sieht – seine Atmosphäre und seine Maße wahrnimmt. Das bewusste Wahrnehmen der eigenen Gedanken und Gefühle macht uns ungeheuer empfindsam, flexibel und achtsam. Verurteile und richte nicht, aber sei äußerst wachsam.
Aus dem Müll kommt pures Gold hervor. Wirklich zu sehen was ist, ist eine ziemlich mühselige Angelegenheit. Wie kann man klar beobachten? Wenn ein Fluss auf ein Hindernis trifft, bleibt er nicht stehen; er muss weiterfließen. Er rebelliert, könnte man sagen, auf intelligente Weise gegen das Hindernis. Man muss auf intelligente Weise rebellieren und das, was ist, auf intelligente Weise annehmen. Um das, was ist, wirklich wahrnehmen zu können, muss man ein intelligenter Rebell sein, aber wir sind meistens so begierig darauf, das zu bekommen, was wir wollen, dass wir gegen das Hindernis anrennen. Entweder wir zerbrechen daran, oder wir erschöpfen uns im Kampf gegen das Hindernis.

Wenn man das Seil als Seil erkennt, muss man nicht mutig sein. Wenn man aber das Seil für eine Schlange hält, braucht man sehr viel Mut, hinzugehen und es anzuschauen. Man muss zweifeln, stets auf der Suche sein, das Falsche als das Falsche zu erkennen.

Durch Achtsamkeit erlangen wir die Fähigkeit, klar zu sehen. Du wirst es feststellen. Man muss handeln. Der Fluss steht nie still, ist immer aktiv. Um handeln zu können, muss man sich in einem Zustand der Negierung befinden, denn dieses Negieren bringt seine eigenen, positiven Handlungen hervor. Wenn wir flexibel, biegsam und anpassungsfähig sind, gibt es kein falsches oder richtiges Handeln.

Man muss innerlich klar sein. Dann wird alles seinen richtigen Gang gehen, das versichere ich Dir. Sei klar, und Du wirst sehen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln, ohne dass Du etwas dazu tust. Aber das Richtige ist nicht unbedingt das, was man sich wünscht.

Es muss eine totale Umwälzung stattfinden – nicht nur im Großen, sondern auch in den kleinen, alltäglichen Dingen. Bei Dir hat diese Umwälzung bereits begonnen, aber Du solltest Dich damit nicht zufriedengeben. Geh weiter! Lass das innere Feuer nicht ausgehen.

Quelle: J. Krishnamurti in : „Tausend Jahre an einem Tag“, Verlag H. J .Maurer, 4. Auflage 2013


3. Brief an einen Freund

Ich hoffe, Du hattest eine angenehme Nacht, einen schönen Sonnenaufgang vor Deinem Fenster und Muße, still in den Abendhimmel zu schauen, bevor Du zu Bett gingst.

Wie wenig wissen wir doch über die Liebe, ihre außerordentliche Zartheit und ‚Macht‘. Wie schnell und unbedacht benutzen wir das Wort ‚Liebe‘. Der General benutzt es, der Metzger benutzt es, der Reiche und der junge Mann und das junge Mädchen benutzen es. Aber wie wenig wissen sie von der Liebe, von ihrer Unendlichkeit, ihrer Unsterblichkeit, ihrer Unfassbarkeit. Zu lieben heißt, sich der Ewigkeit bewusst zu werden.

Was ist Beziehung? Wie schnell lassen wir eine bestimmte Beziehung zur Gewohnheit werden, nehmen sie als selbstverständlich hin, richten uns in einer bestimmten Sitution ein und tolerieren keine Abweichung. Wir lassen nicht die geringste Unsicherheit zu, nicht einmal für eine Sekunde. Alles ist so geregelt, so abgesichert, so festgefahren, dass nicht die geringste Chance besteht, das ein frischer Wind, ein Frühlingshauch, unsere Beziehungen belebt.

Wenn wir aber genau hinschauen, sehen wir, dass eine Beziehung etwas viel Subtileres ist; flüchtiger als ein Blitz und doch unermesslich groß, denn Beziehung ist Leben, und Leben bedeutet Konflikt. Wir möchten unsere Beziehungen zu etwas Festgefügtem machen, möchten, dass sie leicht zu handhaben sind. Und so verlieren sie ihren Duft, ihre Schönheit. All das geschieht, weil wir nicht wirklich lieben. Zu lieben ist das Höchste von allem, denn in der Liebe müssen wir uns selbst völlig vergessen.

Das Frische, Neue ist das Wesentlichste; allenfalls wird das Leben zur Routine, zu einer Gewohnheit. Doch Liebe ist keine Gewohnheit, keine langweilige Angelegenheit.

Die meisten Menschen haben völlig ihre Fähigkeit zu staunen verloren. Sie nehmen alles als selbstverständlich hin, aber dieses trügerische Gefühl der Sicherheit zerstört die Freiheit und das Staunen über die Unwägbarkeiten des Lebens. Wir projizieren stets in die Zukunft, weit weg von der Gegenwart. Doch um das Leben zu verstehen, bedarf es der Aufmerksamkeit in der Gegenwart, und diese Aufmerksamkeit ist immer mit einem Gefühl der Unmittelbarkeit verbunden. Zu versuchen, die eigenen Intentionen und Motive klar zu sehen, ist eine mühevolle Aufgabe.

Unsere Intentionen sind wie eine Flamme, die uns ständig drängt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sei klar in Deinen Absichten, und Du wirst sehen, dass die Dinge sich von selbst regeln. Sei in der Gegenwart klar, mehr ist nicht nötig; aber das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Man muss das Feld für eine neue Saat bereiten, und wenn die Saat dann gesät wurde, bringt sie durch ihre eigene Kraft und Vitalität die Frucht und die neue Saat hervor.

Äußerliche Schönheit kann nie von Dauer sein, sie verfällt, wenn keine innere Schönheit und Freude da ist. Wir kultivieren das Äußerliche und schenken dem Inneren so wenig Beachtung, aber das Äußere wird stets durch das Innere bestimmt.

Es erfordert hohe Intelligenz von einem Mann und einer Frau, miteinander zu leben, das Ego zu vergessen und sich doch weder für den anderen aufzugeben, noch zu versuchen, ihn zu dominieren. Beziehung ist die schwierigste Sache der Welt.

J. Krishnamurti in: „Tausend Jahre an einem Tag“


4. Brief an einen Freund

Die Berge müssen allein sein. Es muss sehr schön sein, wenn der Regen in den Bergen niedergeht und die Regentropfen auf die stille Oberfläche eines Bergsees fallen. Wie gut die Erde riecht, wenn es regnet. Dann kommen alle Frösche heraus und fangen an zu quaken.

Wenn es in den Tropen regnet, wird ein eigentümlicher Zauber spürbar. Alles wird reingewaschen, der Staub von den Blättern gespült, die Flüsse werden lebendig, und überall hört man das Geräusch von fließendem Wasser. Die Bäume bringen grüne Triebe hervor, und wo ausgedörrte karge Erde war, schießt frisches, wildes Gras aus dem Boden. Tausende von Insekten scheinen aus dem Nichts aufzutauchen, und die durstige Erde wird getränkt. Die Sonne scheint für eine Weile weniger erbarmungslos herab, und die Erde ist grün geworden: ein Ort der Schönheit und des Überflusses.

Der Mensch ist weiterhin dabei, sich seine eigenen Probleme zu schaffen, aber die Erde ist wieder lieblich und voller Zauber.

Seltsam, wie sehr die meisten Menschen nach Anerkennung und Ruhm streben. Sie wollen berühmte Dichter, große Philosophen sein. Sie suchen nach etwas, das ihr Ego aufbläht. Es verschafft ihnen große Befriedigung, aber im Grunde ist es bedeutungslos. Ruhm nährt unsere Eitelkeit, füllt vielleicht unsere Taschen – und dann? Er schafft eine Distanz zwischen uns und den anderen, und diese Trennung bringt ihre eigenen Probleme mit sich, die ständig größer werden. Obwohl sie uns Befriedigung verschaffen mögen, sind Ruhm und Anerkennung keine Werte an sich.

Die meisten Menschen jedoch sind in ihre Sucht nach Anerkennung verstrickt, in ihr Bestreben etwas zu erreichen und ihre Wünsche zu erfüllen. Da sind Misserfolge und das daraus resultierende Leiden unvermeidlich.

Man muss beides hinter sich lassen – Erfolg und Misserfolg. Tu einfach, was Du gerne tust, ohne Dich um das Ergebnis zu kümmern. Liebe kennt keine Belohnung oder Bestrafung. Es ist wirklich eine einfache Sache, wenn Liebe da ist.

Wie wenig Aufmerksamkeit schenken wir den Dingen, die uns umgeben; wir sehen und beobachten nicht wirklich, was um uns herum geschieht. Wir sind so ich-bezogen, so mit unseren Sorgen und Befürchtungen beschäftigt und damit, unseren Vorteil herauszuschlagen – wir haben keine Zeit zu beobachten und zu verstehen.

Diese ständige innere Überaktivität macht abgestumpft und müde, frustriert und ängstlich, und dann versuchen wir, vor den Sorgen davonzulaufen. Aber so lange das Selbst auf diese Weise aktiv ist, sind Abgestumpftheit und Frustration unvermeidlich. Die Menschen verlieren sich in einem wahnsinnigen Rennen, im Schmerz ihres ichbezogenen Leidens. Dieses Leid erwächst aus tiefer Gedankenlosigkeit. Die Achtsamen sind frei von Leid.

J. Krishnamurti: Tausend Jahre an einem Tag“

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